Heinrich
von Srbik (er blieb bis zu seinem Tod 1951 bei dieser Form seines Namens)
ist fraglos einer der bedeutendsten österreichischen Historiker unseres
Jahrhunderts und für jeden von Interesse, der sich mit der Geschichte
der Geschichtswissenschaft befaßt. Die Bedeutung Srbiks hat mehrere
Gründe, die teils in seiner Persönlichkeit liegen, teils in seiner
politischen Position, teils natürlich auch im Werk selbst. Ein ganz
entscheidender Punkt liegt aber wohl auch im Wissenschaftsbetrieb seiner
Zeit, in der Art der Rezeption des Srbikschen Werks, d.h. im Umfeld im weiteren
und weitesten Sinn, an dem ja der Erfolg oder Mißerfolg wissenschaftlicher
Ansätze erst erkennbar wird.
Eine umfangreiche Monographie über diese Gestalt hat diese Punkte abzuhandeln.
Die Arbeit des Klagenfurter Historikers Michael Derndarsky
Österreich und die »Deutsche Einheit«.
Studien zu Heinrich von Srbik und seiner gesamtdeutschen Geschichtsauffassung.
ist eine solche umfangreiche Studie nicht die erste über
Srbik, denn dieser ist Gegenstand nicht nur von Kurzbeiträgen, sondern
auch bereits von vier (!) Dissertationen. Mit Derndarskys Werk liegt nun
auch eine Habilitation über Srbik vor. Es fragt sich, was noch alles
kommt.
Kurz zum Aufbau der Arbeit. Sie ist in zwei gleich lange Teile geteilt,
von denen der erste eine Biographie Srbiks bringt, der zweite eine Auseinandersetzung
mit dem Werk, das Srbik selbst als sein wichtigstes ansah: Deutsche
Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz.
Der Autor stützt sich bei seiner Darstellung auf den Briefwechsel
Srbiks (und teilweise auch auf den anderer Historiker untereinander),
auf Personalakten Srbiks und seiner engsten Kollegen, auf Berichte über
den Historiker von Seiten der Kollegen und Schüler, selbstverständlich
auch auf das historiographische Werk selbst.
Der biographische Teil beginnt beim familiären Hintergrund, geht
über die Studienzeit in Wien, Srbiks Grazer Jahren als Professor,
seiner Rückkehr als Professor nach Wien und seiner Zeit im Dritten
Reich bis zu den letzten Jahren im Tiroler »Exil«. Dazu kommt ein kurzer
Abschnitt über den Charakter Srbiks. Das Leben Srbiks wird dabei
sehr detailliert und erschöpfend dargestellt. Bereits im ersten Abschnitt
(zur familiären Herkunft) fällt auf, daß der Autor im
minutiösen kritischen Vergleich eine ganze Reihe von Fehlern anderer
Autoren korrigieren kann Fehler, die indessen weitgehend irrelevant
sind (z.B. die falschen Titulaturen, S. 67 u. Fn. 14, und andere
derartige Dinge). Diese Genauigkeit setzt sich in weiterer Folge fort,
sodaß man am Schluß über eine Biographie Srbiks verfügt,
die so genau ist, wie man sie gar nicht braucht.
Trotz der antiquarischen Tendenz des Werkes ist dieser biographische
Teil, außer für Srbik-Kenner, im Prinzip nicht uninteressant.
Man erfährt vieles, etwa über die Herkunft des 1878 geborenen
Historikers: Sein Vater war Beamter, ebenso wie der erst 1868 nobilitierte
Großvater (der seinerseits allerdings als Beamter ein homo novus
war). Ab 1897 studierte Srbik Geschichte in Wien und absolvierte auch
den Kurs am Institut für österreichische Geschichtsforschung,
den er 1901 abschloß; die Promotion erfolgte dann 1902. Institutsarbeit
und Dissertation waren, wie beim Institut üblich, mediävistisch;
ebenfalls über das Institut, genauer über die Kommission für
neuere Geschichte, wechselte Srbik dann zur neueren Geschichte und zur
Wirtschaftsgeschichte und wurde auch am Institut angestellt. 1907 habilitierte
er sich für österreichische Geschichte, 1910 für allgemeine
Geschichte. 1912 wurde er außerordentlicher Professor für allgemeine
Geschichte in Graz (de facto hatte er mittelalterliche Geschichte zu lehren),
1917 brachte er es zum ordentlichen Professor für neuere Geschichte
und Wirtschaftsgeschichte dortselbst. 1915 bis 1918 betätigte er
sich in den Sommerferien in Südtirol als Soldat. 1922 ging er als
Ordinarius für Geschichte an die Universität Wien, an der er
in der Folge bleiben sollte; Berufungen nach Deutschland, deren er im
Lauf der Jahre mehrere erhielt, lehnte er allesamt ab. Bekannt ist seine
politische Tätigkeit als Unterrichtsminister 1929/30 in der Regierung
Schober; ein Angebot Bundeskanzler Schuschniggs im Jahr 1936, neuerlich
in die Regierung einzutreten (anscheinend als Innenminister und Vizekanzler),
lehnte Srbik ab. Im April 1938 wurde er als Nachfolger Oswald Redlichs
zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften gewählt und
kam in den Reichstag; später trat er auch in die NSDAP ein. Nach
Kriegsende wurde er seiner Lehrkanzel enthoben, 1948 wurde er als Minderbelasteter
im Sinn des Verbotsgesetzes von 1947 eingestuft und pensioniert.
Im Lauf dieser Karriere brachte Srbik es zu einer umfangreichen historiographischen
Produktion, von der außer mehreren Dutzend kleinerer Arbeiten und
der Beteiligung an Quelleneditionen (etwa an den neun Bänden von
Österreich-Ungarns Außenpolitik von der bosnischen Krise
1908 bis zum Kriegsausbruch 1914, 1930, besonders aber an den fünf
Bänden der Quellen zur deutschen Politik Österreichs 18591866,
19341938) v.a. seine Monographien zu nennen sind. Sein letztes Werk
war Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart
(195051), eine Geschichte der Geschichtsschreibung, deren zweiter
Band posthum herausgegeben wurde. Mit Metternich. Der Staatsmann und
der Mensch (1925) war Srbik über Österreichs Grenzen hinaus
berühmt geworden; für dieses Werk wurde er auch von der deutschen
Kollegenschaft einhellig akklamiert, nicht wenige hielten und halten es
für sein wichtigstes Buch. Differenzierter war die Aufnahme des bereits
genannten vierbändigen Werks Deutsche Einheit (1935/42).
Die Deutsche Einheit, eingehend besprochen im zweiten Teil von
Derndarskys Habilitationsschrift, ist eine Darstellung der deutschen Geschichte,
die in der ersten Konzeption von der Behandlung der Jahre 18591866
ausging. Diese kurze Zeitspanne nahm dann nur die letzten beiden Bände
des im Umfang wesentlich angewachsenen Werkes ein; die ersten beiden Bände
umfaßten die deutsche Geschichte vom Mittelalter bis 1848/49 und
das darauffolgende Jahrzehnt. In Deutsche Einheit dokumentiert
sich Srbiks »gesamtdeutsche Geschichtsauffassung«, die (am Titel erkennbar)
ein Hauptinteresse der Arbeit Derndarskys darstellt. Diese gesamtdeutsche
Geschichtsauffassung ist nicht nur bei Derndarsky, sondern bereits bei
ihrem Erfinder nicht eben als besonders klares Analysekonzept zu bezeichnen;
man könnte sie eher als eine bestimmte allgemeine Disposition des
Historikers bei der Beschäftigung mit der deutschen Geschichte bezeichnen.
Etwas verständlicher wird sie, wenn man bedenkt, daß in den
ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts noch immer eine Trennung in eine
»kleindeutsche« und eine »großdeutsche« Geschichtsschreibung zum
19. Jahrhundert anzutreffen war, die weithin als selbstverständlich
vorausgesetzt wurde und bei der die respektive Zuordnung der einzelnen
Historiker ziemlich eindeutig war. Srbiks Ansatz kann als »Versöhnung«
oder Harmonisierung der beiden Richtungen angesehen werden (wie Srbik
überhaupt in der ganzen Arbeit Derndarskys sofern er sich
nicht gerade in seiner wissenschaftlichen Ehre gekränkt fühlte
die Züge des ausgeprägten Harmonisierers trägt).
Tatsächlich zeigte allerdings die Rezeption des Werkes, daß
andere Historiker Srbik in dieser Harmonisierung nicht folgen konnten,
was besonders (aber nicht ausschließlich [1]) für
die »kleindeutsche« Richtung galt, etwa Erich Brandenburg und Fritz Hartung,
die die ersten beiden Bände von Deutsche Einheit schlecht
rezensierten. Allerdings wirkt die Behauptung, Srbik sei damit »zum
ersten Mal auf breiter Front angegriffen worden« (S. 370), trotz
der reservierten Reaktion anderer Historiker wie Friedrich Meinecke, Arnold
Oskar Meyer und Hans Herzfeld eher als bemühte Dramatisierung (Gerhard
Ritter schickte seine briefliche Kritik nicht ab). Die Besprechungen des
dritten und vierten Bandes fielen überhaupt moderater aus.
Jedenfalls beginnt hier der weite Bereich offener Fragen, der von Derndarsky
nicht befriedigend angegangen wird. Vor allem aus der Korrespondenz und
aus Rezensionen wird die Aufnahme von Srbiks Arbeiten bei einzelnen Historikern
durchaus deutlich, sodaß man Derndarsky zugestehen kann, daß
er die Rezeption im engeren Sinn ausreichend behandelt. Was einem heutigen
Leser, der nicht bei Srbik oder vielleicht noch bei seinem Nachfolger
Hugo Hantsch und ihren Kollegen studiert hat, fehlen muß, ist eine
allgemeine Charakterisierung der historischen Forschung in der ersten
Hälfte unseres Jahrhunderts, die erst verständlich macht, wie
Srbik zu seinem Auffassungen kam und wovon die Reaktionen seiner Zeitgenossen
abhingen. Gerade die heute nur mehr schwer nachvollziehbare Auseinandersetzung
um »kleindeutsche«, »großdeutsche« oder »gesamtdeutsche« Geschichtsschreibung
würde eine Erklärung erfordern, die die Gründe für
diese Auseinandersetzung nennt und den Stellenwert erkennen läßt,
den sie in der zeitgenössischen Historiographie hatte.
Ein naheliegender Gedanke wäre, daß eine sachliche Beschäftigung
mit der jüngsten Geschichte vielleicht generell schwerer fällt
als eine nüchterne Behandlung weiter zurückliegender Epochen.
Doch fällt im Fall von Srbiks »gesamtdeutscher Geschichtsauffassung«
auf, daß sich die Auseinandersetzung offenbar nicht auf die österreichisch-preußischen
Konflikte im 19. Jahrhundert beschränkte. Bereits oder gerade die
ersten beiden Bände der Deutschen Einheit riefen, wie erwähnt,
rüden Widerspruch von einigen Seiten hervor, und zwar auch wegen
der Behandlung des 18. Jahrhunderts (besonders Friedrichs II.) und wegen
Srbiks Ideen vom alten Reich. Es scheint die Frage also von grundsätzlicherer
Bedeutung gewesen zu sein.
Ob dies stimmt, ist allerdings erst zu zeigen aus der Arbeit Derndarskys
geht es nicht hervor: Es fragt sich nämlich, wie wichtig diese Auseinandersetzung
im Kontext der Historiographie der Zeit überhaupt war. In den zitierten
Äußerungen von mehr oder weniger wohlwollenden oder entrüsteten
Historikern taucht nämlich letztlich nur eine relativ kleine Zahl
von Namen auf. Gewiß ist zu bedenken, daß der Wissenschaftsbetrieb
dieser Zeit kleiner dimensioniert war als der heutige und daß die
an der Kontroverse beteiligten Professoren in ihrem Rahmen einen gewissen
Wirkungskreis hatten, doch kann damit die Frage der verhältnismäßigen
Bedeutsamkeit der »deutschen Frage« in der damaligen Geschichtswissenschaft
nicht erledigt werden.
Ebensowenig wird von Derndarsky die Frage nach der Wirkung dieser Auseinandersetzung
über die Grenzen des akademischen Lebens hinaus gestellt oder gar
beantwortet. Zwar wird berichtet, wie Srbik im Jahr 1929 mit einem Vortrag
zum Thema Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung die »57. Versammlung
deutscher Philologen und Schulmänner« im Salzburger Festspielhaus
beglückte, doch kann man daraus an sich kaum Schlüsse ziehen;
dasselbe gilt für die Vorträge, die er während des Zweiten
Weltkriegs an etlichen Orten hielt. Und nachdem schon ein Teil der engsten
Fachkollegen an den Universitäten die Deutsche Einheit eingestandenermaßen
nicht las, weil sie ihnen zu lang und zu ermüdend war, darf bezweifelt
werden, daß das Werk eine breitere Wirkung in der primären
Rezeption des außeruniversitären Publikums erzielte. Was bleibt
da noch von der Wichtigkeit der »gesamtdeutschen Geschichtsauffassung«
übrig?
Daß dies aus Derndarskys Werk nicht ersichtlich wird, ist die eigentliche
und gravierende Schwäche dieser Arbeit.
Ein ganz anderer Punkt ist angesichts der bisherigen Beschäftigung
mit Srbik anzusprechen: Srbik-Biographen haben bisher, teils aus der persönlichen
Verbundenheit des Freundes oder Schülers heraus, teils im Bemühen
um die Absolvierung irgendwelcher politischer Pflichtübungen, einen
Hang zur Apologetik bzw. zur Anklage Srbiks wegen dessen politischer Haltungen
gezeigt.
Tatsächlich war Srbik politisch eine schillernde Figur: Er hatte
keine besonderen Probleme mit den Nationalsozialisten und trat, wie erwähnt,
auch selbst in die Partei ein; selbstverständlich war er deutschnational,
er war auch Couleurstudent und anscheinend bis zu einem gewissen Grad
Antisemit. Allerdings zeigte er sich in keiner Weise als rabiater Nazi
und nützte seine schwer angreifbare Stellung auch zu etlichen durchaus
honorigen Wohltaten gegenüber Kollegen, die im Dritten Reich politisch
diskreditiert waren; als Historiker und Wissenschaftsfunktionär beharrte
er auch in Äußerlichkeiten auf einem unbefangenen Umgang mit
der österreichischen Vergangenheit (2); und seine problemlose
Integration in das Herrschaftssystem hinderte ihn nicht am kollegialen
Umgang mit heute unverdächtigen regimekritischen Historikern (was
auch umgekehrt für diese ihm gegenüber gilt).
Derndarsky, der sich mit der »gesamtdeutschen Geschichtsauffassung« beschäftigt,
die letztlich ein Problem der ideologischen Bewertung der Vergangenheit
war, hat an sich zur Rolle der Bewertung in der Geschichtsschreibung eher
zweifelhafte Vorstellungen (3). Merkwürdigerweise wirkt
sich das aber auf seine eigene Darstellung Srbiks und dessen erwähnter
politischer Position nicht nennenswert aus. Dies fällt auf und verdient
festgehalten zu werden: Derndarskys Darstellung ist sachlich und ausgewogen,
sie ist im großen und ganzen weder apologetisch noch anklagend (die
wenigen kurzen Passagen in der Zusammenfassung, die einen gewissen akkusatorischen
Beigeschmack haben, können hier getrost vernachlässigt werden).
Gerade bei dem, worauf man in solchen Zusammenhängen immer gefaßt
sein muß, ist diese leserschonende Zurückhaltung sehr zu loben.
Als Srbik das seltene Vergnügen hatte, ein Gutachten über die
Habilitation Eugen Guglias abgeben zu können, von dem er selbst im
Gymnasium in Geschichte unterrichtet worden war (der Traum jedes Schülers),
schrieb er in einem Brief: »Eben habe ich das Referat über das
Habilitationsgesuch Guglias [
] ausgearbeitet: bin zwar nicht eben
sehr entzückt, doch war eine Ablehnung natürlich ausgeschlossen«
(S. 19, Fn. 38). Eine Ablehnung der Habilitation Derndarskys ist nicht
»natürlich ausgeschlossen«, wäre aber wohl übertrieben.
Von Entzücken kann allerdings auch keine Rede sein.
Anmerkungen
1. Bereits Mitte der 20er Jahre führte Srbik eine Kontroverse über
die »deutsche Frage« mit dem »großdeutschen« Historiker Raimund
Friedrich Kaindl (Professor in Czernowitz).
2. Z.B. was die Weiterverwendung des Namens Österreich in
verschiedenen Zusammenhängen betraf.
3. »Denn die Gleichsetzung des inquisitorischen Prinzips von Ankläger
und Richter, die Srbik vornahm, ist nicht haltbar: sie dient zwar
der negativen Charakterisierung, weil die Trennung der beiden Funktionen
in der Justiz als unabdingbar empfunden wird, kann aber nicht so einfach
auf die Tätigkeit des Historikers übertragen werden: der Umstand,
daß er sein Material gewissermaßen selbst vorträgt, sei
unbestritten, aber wenn, dann ist er eben Ankläger, Richter
und Verteidiger in einer Person und damit
ist die Parallele zum Richter wieder korrekt hergestellt, der ja auch
verschiedene Positionen zu hören bekommt, die seinen Urteilsspruch
beeinflussen« (282283). Dieser Auffassung ist nicht zu folgen:
Abgesehen davon, daß unsere Rechtsordnung im strafprozessualen Bereich
tatsächlich nach wie vor inquisitorische Elemente enthält, ist
wohl die einzige Funktion im Gerichtsverfahren, die eine »Parallele« zur
Aufgabe des Historikers darstellen kann, die des Sachverständigen.