Winter 92/93
Habilitation Michael Derndarsky
Von Karin Neubaur
Srbik
Heinrich von Srbik (er blieb bis zu seinem Tod 1951 bei dieser Form seines Namens) ist fraglos einer der bedeutendsten österreichischen Historiker unseres Jahrhunderts und für jeden von Interesse, der sich mit der Geschichte der Geschichtswissenschaft befaßt. Die Bedeutung Srbiks hat mehrere Gründe, die teils in seiner Persönlichkeit liegen, teils in seiner politischen Position, teils natürlich auch im Werk selbst. Ein ganz entscheidender Punkt liegt aber wohl auch im Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit, in der Art der Rezeption des Srbikschen Werks, d.h. im Umfeld im weiteren und weitesten Sinn, an dem ja der Erfolg oder Mißerfolg wissenschaftlicher Ansätze erst erkennbar wird.

Eine umfangreiche Monographie über diese Gestalt hat diese Punkte abzuhandeln. Die Arbeit des Klagenfurter Historikers Michael Derndarsky

Österreich und die »Deutsche Einheit«. Studien zu Heinrich von Srbik und seiner gesamtdeutschen Geschichtsauffassung.

ist eine solche umfangreiche Studie – nicht die erste über Srbik, denn dieser ist Gegenstand nicht nur von Kurzbeiträgen, sondern auch bereits von vier (!) Dissertationen. Mit Derndarskys Werk liegt nun auch eine Habilitation über Srbik vor. Es fragt sich, was noch alles kommt.

Kurz zum Aufbau der Arbeit. Sie ist in zwei gleich lange Teile geteilt, von denen der erste eine Biographie Srbiks bringt, der zweite eine Auseinandersetzung mit dem Werk, das Srbik selbst als sein wichtigstes ansah: Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz. Der Autor stützt sich bei seiner Darstellung auf den Briefwechsel Srbiks (und teilweise auch auf den anderer Historiker untereinander), auf Personalakten Srbiks und seiner engsten Kollegen, auf Berichte über den Historiker von Seiten der Kollegen und Schüler, selbstverständlich auch auf das historiographische Werk selbst.

Der biographische Teil beginnt beim familiären Hintergrund, geht über die Studienzeit in Wien, Srbiks Grazer Jahren als Professor, seiner Rückkehr als Professor nach Wien und seiner Zeit im Dritten Reich bis zu den letzten Jahren im Tiroler »Exil«. Dazu kommt ein kurzer Abschnitt über den Charakter Srbiks. Das Leben Srbiks wird dabei sehr detailliert und erschöpfend dargestellt. Bereits im ersten Abschnitt (zur familiären Herkunft) fällt auf, daß der Autor im minutiösen kritischen Vergleich eine ganze Reihe von Fehlern anderer Autoren korrigieren kann – Fehler, die indessen weitgehend irrelevant sind (z.B. die falschen Titulaturen, S. 6–7 u. Fn. 14, und andere derartige Dinge). Diese Genauigkeit setzt sich in weiterer Folge fort, sodaß man am Schluß über eine Biographie Srbiks verfügt, die so genau ist, wie man sie gar nicht braucht.

Trotz der antiquarischen Tendenz des Werkes ist dieser biographische Teil, außer für Srbik-Kenner, im Prinzip nicht uninteressant. Man erfährt vieles, etwa über die Herkunft des 1878 geborenen Historikers: Sein Vater war Beamter, ebenso wie der erst 1868 nobilitierte Großvater (der seinerseits allerdings als Beamter ein homo novus war). Ab 1897 studierte Srbik Geschichte in Wien und absolvierte auch den Kurs am Institut für österreichische Geschichtsforschung, den er 1901 abschloß; die Promotion erfolgte dann 1902. Institutsarbeit und Dissertation waren, wie beim Institut üblich, mediävistisch; ebenfalls über das Institut, genauer über die Kommission für neuere Geschichte, wechselte Srbik dann zur neueren Geschichte und zur Wirtschaftsgeschichte und wurde auch am Institut angestellt. 1907 habilitierte er sich für österreichische Geschichte, 1910 für allgemeine Geschichte. 1912 wurde er außerordentlicher Professor für allgemeine Geschichte in Graz (de facto hatte er mittelalterliche Geschichte zu lehren), 1917 brachte er es zum ordentlichen Professor für neuere Geschichte und Wirtschaftsgeschichte dortselbst. 1915 bis 1918 betätigte er sich in den Sommerferien in Südtirol als Soldat. 1922 ging er als Ordinarius für Geschichte an die Universität Wien, an der er in der Folge bleiben sollte; Berufungen nach Deutschland, deren er im Lauf der Jahre mehrere erhielt, lehnte er allesamt ab. Bekannt ist seine politische Tätigkeit als Unterrichtsminister 1929/30 in der Regierung Schober; ein Angebot Bundeskanzler Schuschniggs im Jahr 1936, neuerlich in die Regierung einzutreten (anscheinend als Innenminister und Vizekanzler), lehnte Srbik ab. Im April 1938 wurde er als Nachfolger Oswald Redlichs zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften gewählt und kam in den Reichstag; später trat er auch in die NSDAP ein. Nach Kriegsende wurde er seiner Lehrkanzel enthoben, 1948 wurde er als Minderbelasteter im Sinn des Verbotsgesetzes von 1947 eingestuft und pensioniert.

Im Lauf dieser Karriere brachte Srbik es zu einer umfangreichen historiographischen Produktion, von der außer mehreren Dutzend kleinerer Arbeiten und der Beteiligung an Quelleneditionen (etwa an den neun Bänden von Österreich-Ungarns Außenpolitik von der bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch 1914, 1930, besonders aber an den fünf Bänden der Quellen zur deutschen Politik Österreichs 1859–1866, 1934–1938) v.a. seine Monographien zu nennen sind. Sein letztes Werk war Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart (1950–51), eine Geschichte der Geschichtsschreibung, deren zweiter Band posthum herausgegeben wurde. Mit Metternich. Der Staatsmann und der Mensch (1925) war Srbik über Österreichs Grenzen hinaus berühmt geworden; für dieses Werk wurde er auch von der deutschen Kollegenschaft einhellig akklamiert, nicht wenige hielten und halten es für sein wichtigstes Buch. Differenzierter war die Aufnahme des bereits genannten vierbändigen Werks Deutsche Einheit (1935/42).

Die Deutsche Einheit, eingehend besprochen im zweiten Teil von Derndarskys Habilitationsschrift, ist eine Darstellung der deutschen Geschichte, die in der ersten Konzeption von der Behandlung der Jahre 1859–1866 ausging. Diese kurze Zeitspanne nahm dann nur die letzten beiden Bände des im Umfang wesentlich angewachsenen Werkes ein; die ersten beiden Bände umfaßten die deutsche Geschichte vom Mittelalter bis 1848/49 und das darauffolgende Jahrzehnt. In Deutsche Einheit dokumentiert sich Srbiks »gesamtdeutsche Geschichtsauffassung«, die (am Titel erkennbar) ein Hauptinteresse der Arbeit Derndarskys darstellt. Diese gesamtdeutsche Geschichtsauffassung ist nicht nur bei Derndarsky, sondern bereits bei ihrem Erfinder nicht eben als besonders klares Analysekonzept zu bezeichnen; man könnte sie eher als eine bestimmte allgemeine Disposition des Historikers bei der Beschäftigung mit der deutschen Geschichte bezeichnen. Etwas verständlicher wird sie, wenn man bedenkt, daß in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts noch immer eine Trennung in eine »kleindeutsche« und eine »großdeutsche« Geschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert anzutreffen war, die weithin als selbstverständlich vorausgesetzt wurde und bei der die respektive Zuordnung der einzelnen Historiker ziemlich eindeutig war. Srbiks Ansatz kann als »Versöhnung« oder Harmonisierung der beiden Richtungen angesehen werden (wie Srbik überhaupt in der ganzen Arbeit Derndarskys – sofern er sich nicht gerade in seiner wissenschaftlichen Ehre gekränkt fühlte – die Züge des ausgeprägten Harmonisierers trägt). Tatsächlich zeigte allerdings die Rezeption des Werkes, daß andere Historiker Srbik in dieser Harmonisierung nicht folgen konnten, was besonders (aber nicht ausschließlich [1]) für die »kleindeutsche« Richtung galt, etwa Erich Brandenburg und Fritz Hartung, die die ersten beiden Bände von Deutsche Einheit schlecht rezensierten. Allerdings wirkt die Behauptung, Srbik sei damit »zum ersten Mal auf breiter Front angegriffen worden« (S. 370), trotz der reservierten Reaktion anderer Historiker wie Friedrich Meinecke, Arnold Oskar Meyer und Hans Herzfeld eher als bemühte Dramatisierung (Gerhard Ritter schickte seine briefliche Kritik nicht ab). Die Besprechungen des dritten und vierten Bandes fielen überhaupt moderater aus.

Jedenfalls beginnt hier der weite Bereich offener Fragen, der von Derndarsky nicht befriedigend angegangen wird. Vor allem aus der Korrespondenz und aus Rezensionen wird die Aufnahme von Srbiks Arbeiten bei einzelnen Historikern durchaus deutlich, sodaß man Derndarsky zugestehen kann, daß er die Rezeption im engeren Sinn ausreichend behandelt. Was einem heutigen Leser, der nicht bei Srbik oder vielleicht noch bei seinem Nachfolger Hugo Hantsch und ihren Kollegen studiert hat, fehlen muß, ist eine allgemeine Charakterisierung der historischen Forschung in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, die erst verständlich macht, wie Srbik zu seinem Auffassungen kam und wovon die Reaktionen seiner Zeitgenossen abhingen. Gerade die heute nur mehr schwer nachvollziehbare Auseinandersetzung um »kleindeutsche«, »großdeutsche« oder »gesamtdeutsche« Geschichtsschreibung würde eine Erklärung erfordern, die die Gründe für diese Auseinandersetzung nennt und den Stellenwert erkennen läßt, den sie in der zeitgenössischen Historiographie hatte.
Ein naheliegender Gedanke wäre, daß eine sachliche Beschäftigung mit der jüngsten Geschichte vielleicht generell schwerer fällt als eine nüchterne Behandlung weiter zurückliegender Epochen. Doch fällt im Fall von Srbiks »gesamtdeutscher Geschichtsauffassung« auf, daß sich die Auseinandersetzung offenbar nicht auf die österreichisch-preußischen Konflikte im 19. Jahrhundert beschränkte. Bereits oder gerade die ersten beiden Bände der Deutschen Einheit riefen, wie erwähnt, rüden Widerspruch von einigen Seiten hervor, und zwar auch wegen der Behandlung des 18. Jahrhunderts (besonders Friedrichs II.) und wegen Srbiks Ideen vom alten Reich. Es scheint die Frage also von grundsätzlicherer Bedeutung gewesen zu sein.

Ob dies stimmt, ist allerdings erst zu zeigen – aus der Arbeit Derndarskys geht es nicht hervor: Es fragt sich nämlich, wie wichtig diese Auseinandersetzung im Kontext der Historiographie der Zeit überhaupt war. In den zitierten Äußerungen von mehr oder weniger wohlwollenden oder entrüsteten Historikern taucht nämlich letztlich nur eine relativ kleine Zahl von Namen auf. Gewiß ist zu bedenken, daß der Wissenschaftsbetrieb dieser Zeit kleiner dimensioniert war als der heutige und daß die an der Kontroverse beteiligten Professoren in ihrem Rahmen einen gewissen Wirkungskreis hatten, doch kann damit die Frage der verhältnismäßigen Bedeutsamkeit der »deutschen Frage« in der damaligen Geschichtswissenschaft nicht erledigt werden.

Ebensowenig wird von Derndarsky die Frage nach der Wirkung dieser Auseinandersetzung über die Grenzen des akademischen Lebens hinaus gestellt oder gar beantwortet. Zwar wird berichtet, wie Srbik im Jahr 1929 mit einem Vortrag zum Thema Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung die »57. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner« im Salzburger Festspielhaus beglückte, doch kann man daraus an sich kaum Schlüsse ziehen; dasselbe gilt für die Vorträge, die er während des Zweiten Weltkriegs an etlichen Orten hielt. Und nachdem schon ein Teil der engsten Fachkollegen an den Universitäten die Deutsche Einheit eingestandenermaßen nicht las, weil sie ihnen zu lang und zu ermüdend war, darf bezweifelt werden, daß das Werk eine breitere Wirkung in der primären Rezeption des außeruniversitären Publikums erzielte. Was bleibt da noch von der Wichtigkeit der »gesamtdeutschen Geschichtsauffassung« übrig?

Daß dies aus Derndarskys Werk nicht ersichtlich wird, ist die eigentliche und gravierende Schwäche dieser Arbeit.

Ein ganz anderer Punkt ist angesichts der bisherigen Beschäftigung mit Srbik anzusprechen: Srbik-Biographen haben bisher, teils aus der persönlichen Verbundenheit des Freundes oder Schülers heraus, teils im Bemühen um die Absolvierung irgendwelcher politischer Pflichtübungen, einen Hang zur Apologetik bzw. zur Anklage Srbiks wegen dessen politischer Haltungen gezeigt.

Tatsächlich war Srbik politisch eine schillernde Figur: Er hatte keine besonderen Probleme mit den Nationalsozialisten und trat, wie erwähnt, auch selbst in die Partei ein; selbstverständlich war er deutschnational, er war auch Couleurstudent und anscheinend bis zu einem gewissen Grad Antisemit. Allerdings zeigte er sich in keiner Weise als rabiater Nazi und nützte seine schwer angreifbare Stellung auch zu etlichen durchaus honorigen Wohltaten gegenüber Kollegen, die im Dritten Reich politisch diskreditiert waren; als Historiker und Wissenschaftsfunktionär beharrte er auch in Äußerlichkeiten auf einem unbefangenen Umgang mit der österreichischen Vergangenheit (2); und seine problemlose Integration in das Herrschaftssystem hinderte ihn nicht am kollegialen Umgang mit heute unverdächtigen regimekritischen Historikern (was auch umgekehrt für diese ihm gegenüber gilt).

Derndarsky, der sich mit der »gesamtdeutschen Geschichtsauffassung« beschäftigt, die letztlich ein Problem der ideologischen Bewertung der Vergangenheit war, hat an sich zur Rolle der Bewertung in der Geschichtsschreibung eher zweifelhafte Vorstellungen (3). Merkwürdigerweise wirkt sich das aber auf seine eigene Darstellung Srbiks und dessen erwähnter politischer Position nicht nennenswert aus. Dies fällt auf und verdient festgehalten zu werden: Derndarskys Darstellung ist sachlich und ausgewogen, sie ist im großen und ganzen weder apologetisch noch anklagend (die wenigen kurzen Passagen in der Zusammenfassung, die einen gewissen akkusatorischen Beigeschmack haben, können hier getrost vernachlässigt werden). Gerade bei dem, worauf man in solchen Zusammenhängen immer gefaßt sein muß, ist diese leserschonende Zurückhaltung sehr zu loben.

Als Srbik das seltene Vergnügen hatte, ein Gutachten über die Habilitation Eugen Guglias abgeben zu können, von dem er selbst im Gymnasium in Geschichte unterrichtet worden war (der Traum jedes Schülers), schrieb er in einem Brief: »Eben habe ich das Referat über das Habilitationsgesuch Guglias […] ausgearbeitet: bin zwar nicht eben sehr entzückt, doch war eine Ablehnung natürlich ausgeschlossen« (S. 19, Fn. 38). Eine Ablehnung der Habilitation Derndarskys ist nicht »natürlich ausgeschlossen«, wäre aber wohl übertrieben. Von Entzücken kann allerdings auch keine Rede sein.


Anmerkungen

1. Bereits Mitte der 20er Jahre führte Srbik eine Kontroverse über die »deutsche Frage« mit dem »großdeutschen« Historiker Raimund Friedrich Kaindl (Professor in Czernowitz).
2. Z.B. was die Weiterverwendung des Namens Österreich in verschiedenen Zusammenhängen betraf.
3. »Denn die Gleichsetzung des inquisitorischen Prinzips von ›Ankläger und Richter‹, die Srbik vornahm, ist nicht haltbar: sie dient zwar der negativen Charakterisierung, weil die Trennung der beiden Funktionen in der Justiz als unabdingbar empfunden wird, kann aber nicht so einfach auf die Tätigkeit des Historikers übertragen werden: der Umstand, daß er sein Material gewissermaßen selbst vorträgt, sei unbestritten, aber wenn, dann ist er eben ›Ankläger, Richter und Verteidiger‹ in einer Person – und damit ist die Parallele zum Richter wieder korrekt hergestellt, der ja auch verschiedene Positionen zu hören bekommt, die seinen Urteilsspruch beeinflussen« (282–283). Dieser Auffassung ist nicht zu folgen: Abgesehen davon, daß unsere Rechtsordnung im strafprozessualen Bereich tatsächlich nach wie vor inquisitorische Elemente enthält, ist wohl die einzige Funktion im Gerichtsverfahren, die eine »Parallele« zur Aufgabe des Historikers darstellen kann, die des Sachverständigen.

 

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letzte Änderung: 20.06.2015
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