Herbst 2010
Habilitation Andreas Gottsmann
Von Michael Pammer
Katholizismus und Nationalitäten

Im Jahr 1900 war Österreich-Ungarn mehrheitlich römisch-katholisch, mit charakteristischen regionalen Unterschieden. In Cisleithanien betrug der Katholikenanteil in den meisten Kronländern mehr als 90 Prozent. In Schlesien war er etwas geringer (85 Prozent), in Galizien viel geringer (46 Prozent), in der Bukowina besonders niedrig (12 Prozent). Ganz anders waren die Verhältnisse in Ungarn. Rechnet man Kroatien-Slawonien dazu, bestanden unter Einschluß von Fiume 101 Komitate und Munizipien. In fünf dieser Gebietseinheiten erreichte der Katholikenanteil über 90 Prozent, in 41 nicht einmal 50 Prozent. Westungarn war zu etwa drei Vierteln katholisch, das Gebiet zwischen Donau und Theiß zu zwei Dritteln, Kroatien-Slawonien zu 70 Prozent. Östlich der Theiß waren Katholiken, von lokalen Ausnahmen abgesehen, eine Minderheit.

Unter den zahlreichen sonstigen Bekenntnissen sind vor allem die Griechisch-Unierten und die Orthodoxen zu nennen. Erstere bildeten im Großteil Ostgaliziens die Bevölkerungsmehrheit und erreichten lokal über 85 Prozent (in ganz Galizien 43 Prozent); ähnlich hoch war der Anteil dieser Konfession in den anschließenden nordöstlichen Gebieten Ungarns bis hinunter nach Siebenbürgen (Siebenbürgen insgesamt hatte mehr als ein Viertel Unierte). Die Orthodoxen waren besonders stark in der Bukowina (69 Prozent der Bevölkerung) vertreten, weiters im Theiß-Maros-Becken zwischen Belgrad und Arad (mehr als 50 Prozent), aber auch in Teilen Kroatien-Slawoniens (in ganz Kroatien-Slawonien mit 25 Prozent) und Siebenbürgens (in ganz Siebenbürgen mit insgesamt 30 Prozent); in all diesen Regionen gab es lokal orthodoxe Mehrheiten, die bis über 85 Prozent gingen.

Evangelische Minderheiten beider Bekenntnisse gab es besonders in Ungarn in vielen Regionen, sie bildeten regional (etwa im Gebiet um Debreczen) sogar eine starke Bevölkerungsmehrheit. Auch die jüdische Bevölkerung war in Ungarn zahlreicher vertreten als in Cisleithanien.

Die unterschiedliche regionale Verteilung der Konfessionen stand auch in Zusammenhang mit den Anteilen der Nationalitäten. Allerdings waren die Verhältnisse nicht gerade einfach: In manchen Fällen war die konfessionelle Grenze zugleich eine nationale Trennlinie, etwa im Fall der ruthenisch-katholischen Kirche (einer der mit Rom unierten Gemeinschaften) und der verschiedenen orthodoxen Kirchen (Serbisch-Orthodoxe, Rumänisch-Orthodoxe; in der Bukowina waren auch die Ruthenen orthodox). Einige kleinere Gemeinschaften waren im regionalen Rahmen in muttersprachlicher Hinsicht fast völlig homogen, etwa die Reformierte Religion, zu der sich fast nur Ungarn bekannten (und zwar obendrein fast ausschließlich solche, die keiner zweiten Sprache mächtig waren); die Lutheraner waren meist Deutsche, in Schlesien größerenteils Polen. Besonders in Cisleithanien bedeutete aber die Dominanz des Katholizismus, daß katholische Deutsche neben katholischen Tschechen, katholische Italiener neben katholischen Slowenen lebten. Auch im konfessionell stärker durchmischten Ungarn gehörten die Katholiken verschiedenen Nationalitäten an, waren katholische Ungarn, Slowaken, Kroaten und Deutsche.

Von katholischer Monokultur kann aber nirgendwo die Rede sein, auch dort nicht, wo eine ernsthafte Konkurrenz anderer Konfessionen fehlte. Denn der Katholizismus war in sich so uneinheitlich, daß nationale Anliegen ebenso über innerkatholische wie über interkonfessionelle Gegensätze verfolgt werden konnten. Die katholische Kirche war somit zwar grundsätzlich von einem universalistischen Anspruch getragen, konnte von den Auseinandersetzungen zwischen den Nationalitäten aber nicht unberührt bleiben. Die schwer überschaubare Geschichte des Verhältnisses zwischen Kirche, staatlicher Politik und nationalen Interessen untersucht Andreas Gottsmann in seiner umfangreichen Studie
Rom und die nationalen Katholizismen in der Donaumonarchie. Römischer Universalismus, habsburgische Reichspolitik und nationale Identitäten 1878–1914. Wien (Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) 2010 (= Publikationen des Historischen Institutes beim Österreichischen Kulturforum in Rom I/16), 408 S., euro 77,50.
Der Autor war beziehungsweise ist Mitarbeiter des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, des Österreichischen Historischen Instituts in Rom und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Im Rahmen seiner Tätigkeit in Rom bearbeitete er die Nuntiaturberichte aus den Pontifikaten von Leo XIII. und Pius X. und daneben eine Reihe anderer Quellen. Die Arbeit basiert hauptsächlich auf Archivbeständen vatikanischer Archive (der Nunziatur, des Staatssekretariats, mehrerer Kongregationen) sowie des Österreichischen Staatsarchivs. In gewisser Weise standen diese Quellen am Anfang der Untersuchung und prägten in der Folge Fragestellung und Ergebnisse.

Nationalitätenfragen berührten das Geschehen in der katholischen Kirche in vielerlei Hinsicht, wobei die Bedingungen regional und zeitlich sehr unterschiedlich waren. Die Umstände, die zur Komplexität des Geschehens beitrugen, werden in Gottsmanns Untersuchung teils einleitend thematisiert, teils kristallisieren sie sich in der Darstellung der behandelten Ereignisse heraus. Sie betreffen die Verhältnisse innerhalb der Konfessionen und zwischen ihnen, die Rolle der staatlichen Behörden, die soziale Stellung der Angehörigen von Nationalitäten und Konfessionen und anderes.

Der vielleicht auffälligste Aspekt im Gesamteindruck, der sich aus diesem Band ergibt, ist jener von der Variabilität der politischen Auffassungen und »taktischen« Vorstellungen. So wie bei den katholischen Laien gab es auch im katholischen Klerus im allgemeinen und im Episkopat im besonderen ganz unterschiedliche Auffassungen über das, was wünschenswert sei. Dies schließt auch die Päpste des Untersuchungszeitraums (Leo XIII. und Pius X.) ein, ebenso wie die Nuntien, die alle paar Jahre wechselten. Auch muß betont werden, daß einzelne wichtige Entscheidungsträger gar nicht selten ihre Auffassungen änderten. Die Schwierigkeit, zu einer umfassenden Einschätzung der Vorgänge zu gelangen und (auch schon aus Sicht der Zeitgenossen) eine beständige Linie auszumachen, liegt schon in diesem leicht erratischen Charakter der Entscheidungsprozesse begründet.

Orthodoxie, Union und die slawische Liturgie
Eine erste für die nationalen Fragen relevante Angelegenheit war das besondere Verhältnis zwischen griechischen und römischen Katholiken. Die katholische Kirche umfaßte auch die mit Rom unierten Christen, die in der Konfessionsstatistik als eigene Gemeinschaften ausgewiesen sind. Die unierten Kirchen (etwa die ruthenisch-katholische Kirche), hervorgegangen aus der Orthodoxie und im Zug der antischismatischen Bemühungen seit Jahrhunderten mit Rom uniert, unterscheiden sich zwar nicht dogmatisch, wohl aber in der Liturgie und in verschiedenen kirchenrechtlichen Angelegenheiten (zum Beispiel in der Zölibatsregelung) von der römisch-katholischen Kirche.

Daß es die Union gab und daß zwischen lateinischen und griechischen Katholiken gewisse Unterschiede bestanden, war an sich unproblematisch. Relevant wurde das »Griechentum« in zweierlei Hinsicht, nämlich im Verhältnis zwischen Katholizismus und Orthodoxie und im Umgang mit den »slawischen« Bestrebungen innerhalb der lateinischen Kirche.

In der Politik des Hl. Stuhls gegenüber der Orthodoxie mischte sich das hehre Ziel, die Spaltung zu überwinden und die Union auf die gesamte Orthodoxie auszudehnen, mit dem viel realitätsnäheren Wunsch, Ansprüche der Orthodoxie abzuwehren. Letzteres kam aus der engen Verflochtenheit der russischen Regierung mit der russischen Kirche, aus panslawistischen Wünschen auf russischer Seite und daher kommenden Ängsten, aus den beobachteten Schwierigkeit den Unionskirchen innerhalb Rußlands mit der teilweise aggressiven Übernahmepolitik und so weiter. Es konnte gut sein, daß Zugeständnisse statt einer (römisch geleiteten) Union mit der Orthodoxie eine Ausdehnung des orthodoxen (und damit russischen) Einflusses in Österreich-Ungarn hervorbringen konnten. Der »katholische Panslawismus« (20) als Angebot an die nichtkatholischen Slawen war daher im Episkopat umstritten und in der österreichischen und der ungarischen Regierung unerwünscht.

Dieses »katholische panslawistische« Angebot war aber ohnehin bescheiden. 1880 erhob Leo XIII. in seiner Enzyklika Grande munus die Slawenapostel Cyrill und Method zu Heiligen, ein Signal sowohl an die Orthodoxie als auch an die katholischen Slawen, aber eigentlich kein »panslawistisches«: Cyrill und Method waren Heilige für alle Katholiken, nicht nur für die Slawen und schon gar nicht für eine slawische »Nationalkirche«. In der Rezeption dieses Aktes findet sich daher auch bei den Zeitgenossen die Lesart, der Papst habe damit etwas gegen den Panslawismus getan. In der breiteren slawischen Öffentlichkeit wurde die Kanonisierung der Slawenapostel positiv aufgenommen, eine Dankwallfahrt slawischer, insbesondere kroatischer Katholiken nach Rom blieb aber ein Unternehmen in überschaubaren Dimensionen.

Die Reaktionen auf Grande munus zeigten, so wie die Enzyklika selbst, daß es zumindest in Teilen der slawischen Bevölkerung das Bedürfnis gab, eine slawische Identität auch in der Religionsausübung zur Geltung bringen zu können. Hier zeigten sich aber auch rasch die Grenzen dessen, was der Hl. Stuhl akzeptieren konnte. Ein besonders wichtiges Thema, jedenfalls wenn man nach den Nuntiaturberichten geht, war die Gestaltung der Liturgie, und zwar vor allem die Liturgie in der römischen Kirche.

In der römischen Kirche war grundsätzlich die lateinische Liturgie verbindlich, es gab aber erlaubte Ausnahmen (und abweichende Gebräuche, bei denen nicht viel nachgefragt wurde). In einigen Gebieten Österreich-Ungarns, in Westkroatien, Dalmatien und Istrien stand im lateinischen Ritus zum Teil auch das Altkirchenslawische in der dafür entwickelten Schrift, der Glagolica, in Verwendung; dies war ursprünglich ein Zugeständnis zur Abwehr der Orthodoxie gewesen und durch päpstliche Privilegien abgesichert. Daneben schlich sich mancherorts aus Bequemlichkeit und Unbildung der Gebrauch der slawischen Volkssprache ein.

Die Versuche, die altslawische Liturgie weiter zu verbreiten, sind im Kontext der eher offenen Haltung Roms gegenüber der Orthodoxie zu sehen. Besonders aktiv war dabei der Bischof von Djakovo, Josip Juraj Strossmayer, der von 1849 bis 1905 amtierte und in dieser Zeit das nationale Anliegen auf kirchlicher Ebene vertrat (er war auch aktiv an der Dankwallfahrt für Grande Munus beteiligt). Strossmayer machte schon Ende der fünfziger Jahre Vorschläge für eine Förderung des Kirchenslawischen, 1881 forderte er geradezu die flächendeckende Wiedereinführung dieser Liturgie in den slawischen Gebieten. Als Bischof einer slawonischen Diözese berührte er damit unmittelbar die Interessen Ungarns – man hielt die Einführung des Kirchenslawischen für einen Schritt auf dem Weg zu einer südslawischen Einigung. (Auf russischer Seite wurde eine mögliche Einführung des Kirchenslawischen in den slawischen Gebieten Österreich-Ungarns hingegen als Teil eines gegen die Orthodoxie gerichteten Missionierungsprogramms gesehen.) Es berührte die »Slawenfrage« also Themen, die über die Frage der liturgischen Sprache weit hinausgingen.

Welche Liturgie nun wirklich erlaubt wurde, war Gegenstand langer Auseinandersetzungen auf diözesaner und Pfarrebene. Der Hl. Stuhl beabsichtigte zwar nicht, alte den Gebrauch des Kirchenslawischen betreffende Privilegien aufzuheben, ein Slawisierungsprogramm im Sinn Strossmayers und Gleichgesinnter lag ihm aber fern. Praktisch ging es daher um den Nachweis, daß das Altslawische in einem bestimmten Gebiet traditionell in Gebrauch gewesen sei, um die Erlaubnis zu seiner weiteren Verwendung zu erhalten. Das Ergebnis hing sowohl von lokalen Wünschen als auch von der Position des zuständigen Bischofs ab. Gottsmann beschreibt diese Entscheidungsprozesse für eine Reihe von Fällen im einzelnen.

Obwohl es bei diesen Entscheidungen vordergründig um die Verwendung des Altslawischen ging, war die Rolle der zeitgenössischen Volkssprache in der Liturgie ebenfalls zu bedenken, schon deshalb, weil, wie erwähnt, faktisch volkssprachliche Elemente an die Stelle des Altslawischen getreten waren. Als liturgische Sprache kam die Volkssprache für den Hl. Stuhl allerdings nicht in Frage. Damit traf sich seine Position mit jener des deutschen und des ungarischen Nationalismus, für den (trotz gelegentlicher ungarischer Forderung nach ungarischer Liturgiesprache) die Forderung nach der lateinischen Messe typisch war. Dies ist weniger kurios, als es zunächst scheint; zwar war die lateinische Messe aus der Sicht des Hl. Stuhls einfach ein Ergebnis der universalistischen Position der Kirche – die Kirche sollte demnach eine Einheit und nicht eine Versammlung von auseinanderstrebenden Nationalkirchen sein. Aus der Sicht des deutschen und des ungarischen Nationalismus war die lateinische Messe (in charakteristischer Akzentverschiebung) jedoch ein Instrument gegen die Verselbständigungswünsche der slawischen Nationalitäten: eine einheitliche deutsche beziehungsweise ungarische Messe auch für die Slawen war ohnehin nicht möglich, aber die slawische Messe konnte man verhindern, indem man auf der verbindlichen lateinischen Liturgie beharrte.

Bei alldem geht es um die Sakramentalien; bei der Lesung bestand mehr Spielraum, etwa in Form der zusätzlichen Lesung in der Volkssprache. Predigten und Gesänge waren ohnehin in der Volkssprache. Die Konflikte, die sich dabei ergaben, kamen eher daher, daß in einem gemischtsprachigen Gebiet bei den volkssprachlichen Teilen des Ritus eine Nationalität gegenüber einer anderen bevorzugt wurde. Gottsmann beschreibt dies etwa im Verhältnis der Italiener und der Slowenen in Triest und anhand ähnlicher Fälle.

Personalpolitik und kirchliche Gliederung
Die Bestellung von Personal ist auf Ebene der Nuntiatur in erster Linie eine Bestellung von Bischöfen (auffällig gewordene Pfarrer zogen seltener die Aufmerksamkeit Roms auf sich). Im Zusammenhang mit der Ernennung von Bischöfen war der nationale Aspekt häufig ein Thema, und da es viele Bischofsernennungen gab, liegt hier genügend Material vor. Neben den auch sonst relevanten Aspekten (etwa der persönlichen Integrität eines Kandidaten, seinem kirchen- und staatspolitischen Stil, seiner Position in sonstigen die Kirche betreffenden Fragen et cetera) entschied die Position in den nationalen Fragen in einer Reihe von Fällen über das Ergebnis, oder jedenfalls wurden entsprechende Argumente verwendet.

Kompliziert wurde der Entscheidungsprozeß durch den Umstand, daß die Bischöfe nicht vom Papst, sondern vom Kaiser ernannt wurden; faktisch wurde der unter Mitwirkung verschiedener Behörden (Statthalter, Kultusminister – die handelnden Personen waren allenfalls auch antiklerikal, nichtkatholisch oder atheistisch) erstellte Vorschlag allerdings mit dem Nuntius abgesprochen. Das war, trotz einer gewissen Übereinstimmung im Umgang mit der Nationalitätenfrage, nicht immer friktionsfrei möglich (zusätzlich nützte der Hl. Stuhl sein Recht, aus eigener Entscheidung Weihbischöfe ohne Sukzessionsrecht zu ernennen). Das Hin und Her, das mit den Bischofsernennungen verbunden war, wird in der vorliegenden Arbeit sehr detailliert und an einer Reihe von Fällen dargestellt.

Relevant bei der Entscheidung für oder gegen einen Kandidaten waren nationale Fragen klarerweise vor allem in gemischtsprachigen Gebieten. Hier ging es um die politische Position von Kandidaten – rabiate, polarisierende Nationalisten waren nicht erwünscht, und selbstverständlich erwartete man Loyalität dem Hl. Stuhl gegenüber. In einigen Fällen reduzierte sich die Nationalitätenfrage allerdings weitgehend auf den Aspekt der Sprachbeherrschung: Wer etwa die drei regional relevanten Sprachen nicht beherrschte, mochte es schwer haben, für ein Bistum ins Betracht gezogen zu werden – also eine eher praktische und unideologische Betrachtungsweise.

Als Weg, um die Bedeutung des Nationalitätenstreits in der kirchlichen Verwaltung und der Seelsorge zu vermindern, wurden auch Änderungen in der Diözesangliederung ins Spiel gebracht. Gottsmann beschreibt dies für Böhmen; Ziel wäre die Schaffung ethnisch ziemlich homogener Diözesen gewesen, allerdings unvermeidlicherweise unter Einschluß kleiner (und dann wohl vollends marginalisierter) Minderheiten. Die Vorschläge kamen nie in die Nähe der Verwirklichung.

Soziale und politische Aspekte des Nationalismus
Die nationale Zugehörigkeit war oft mit spezifischen sozialen Unterschieden und politischen Orientierungen verbunden, sodaß der Nationalitätenkonflikt innerhalb der katholischen Kirche auch ein Konflikt zwischen oberen und unteren Klassen oder ein Konflikt zwischen antiklerikal-liberalen Kräften einerseits und Romtreuen andererseits wurde. In diesem Buch behandelte Beispiele sind das Verhältnis zwischen der tendenziell liberalen, einkommensstärkeren italienischen Bevölkerung in Triest und der slowenischen Unterschicht; oder das Verhältnis zwischen den römisch-katholischen, einkommensstarken Polen in Galizien und der ruthenischen (unierten) Unterschicht.

Die Loyalität der Bevölkerung zur Kirche stand damit auch in Zusammenhang mit nationaler Zugehörigkeit. Im Kontext nationaler Gegensätze und damit verbundener Fragen (etwa der Liturgie) kam es gelegentlich zu Austritts- und Übertrittsbewegungen, oder es wurden zumindest solche Bewegungen propagiert. Der Autor beschreibt Fälle von angedachtem oder wirklich durchgeführtem Übertritt ganzer Gemeinden zur Orthodoxie. Aus den behandelten Beispielen – Podraga in Krain, Ricmanje in der Diözese Triest und so weiter – ist ersichtlich, daß die Erklärung für einen solchen Schritt gar nicht leicht fällt und neben nationalistischen Fragen auch alle möglichen anderen Aspekte einschließt. Das gilt auch für die nicht besonders erfolgreiche Los-von-Rom-Bewegung, also die Propagierung des Übertritts zur Evangelischen oder zur Altkatholischen Kirche, im Fall der deutschen Bevölkerung. Es entwickelte sich aus solchen Bewegungen zwar kein Massenphänomen, das Bedrohungsgefühl war aber nicht ohne jeden Anlaß.

Neben diesen Hauptthemen kommen etliche weitere Themen zur Sprache, etwa Fragen der Priesterausbildung und der Publizistik, letztere vor allem auch im Zusammenhang mit innerkirchlichen Konflikten, etwa wenn radikale Priester im Konflikt mit dem Bischof versuchten, ihre Positionen über eigene Zeitungen zu vertreten.

Offene Fragen
Wie eingangs beschrieben, ist die Arbeit auf Basis von Quellen insbesondere aus der vatikanischen Verwaltung geschrieben worden. Man bekommt also viel amtlichen Schriftverkehr (überwiegend in indirekter Form) vorgelegt, und mit dieser Schwerpunktsetzung konzentriert sich die Untersuchung unvermeidlich auf einen ganz spezifischen Ausschnitt des Geschehens und der Entscheidungsprozesse.

Das führt zur Frage, was in dieser Untersuchung nicht behandelt wird, in einer Untersuchung von Katholizismus und Nationalismus aber relevant wäre. Die Konzentration auf die Akten der kirchlichen und staatlichen Verwaltung hat dazu geführt, daß die Stimmung in der Bevölkerung insgesamt zwar nicht unkenntlich bleibt, aber zumeist doch ein zweitrangiges Thema ist – sie wird eben dann thematisiert, wenn sie Argumente für die amtlichen Korrespondenzen und sonstigen Akte liefert. Gottsmann spricht diese Schwerpunktsetzung, die sich aus seiner Quellenbasis ergeben hat, auch explizit an.
Zunächst ist dies einfach eine Prioritätensetzung des Autors, seine Entscheidung, mit welchen Aspekten dieses umfassenden Themas er sich beschäftigen will. Da es ja auch eine praktische Frage ist, wie viel ein einzelner Autor bewältigen kann, kann man diese Schwerpunktsetzung einfach akzeptieren. Daß trotzdem und trotz einer überaus gründlichen und bei aller Liebe zum Detail gar nicht schlecht geschriebenen Arbeit ein gewisser Vorbehalt bleibt, liegt aber doch auch am verwendeten Quellentyp.

Dies deshalb, weil die Perspektive, aus der die vatikanische Verwaltung die katholische Kirche in Österreich wahrnahm, vermutlich dazu geführt hat, daß in ihrer Korrespondenz das Konflikthafte, das es in innerkirchlichen Entscheidungsprozessen immer gibt, gegenüber den unauffälligen, routinemäßigen, eben nicht erwähnenswerten Angelegenheiten übermäßiges Gewicht bekommt. Diese Vermutung gilt für die meisten behandelten Themen: Kirchenaustritt und Konfessionswechsel, sei es in Zusammenhang mit nationalistischen Anliegen oder aus anderen Gründen, sind eben besonders auffällige Akte; nur kamen sie nicht gar so oft vor. Auch das Gezerre um die Besetzung von Bischofsstühlen, Streitigkeiten an Priesterseminaren, Konflikte von Pfarrern mit ihren Bischöfen, von Bischöfen mit dem Nuntius, alle diese Dinge erwecken den Eindruck, als sei der Katholizismus in Österreich-Ungarn in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg in erster Linie von Konflikten um die Nationalität bestimmt gewesen. Und daran darf man zweifeln: Gewiß, der vorliegende Band informiert über viele Gelegenheiten, bei denen es in der katholischen Kirche in der einen oder anderen Hinsicht ein Nationalismus-Problem gab. Aber wie viele Bischöfe wurden ernannt, ohne daß die Nationalität ein Thema wurde? Wie viele publizierende Priester hatten Probleme mit ihrem Ordinarius, ohne daß nationalistische Fragen dabei relevant gewesen wären? Wie viele hatten gar kein Problem mit dem Bischof? Wie viele Katholiken verließen die Kirche oder distanzierten sich innerlich, aus irgendwelchen anderen Gründen und unabhängig von nationalistischen Aspekten? Und wie viele hatten ohnehin kein besonderes Problem mit der Kirche oder sahen zumindest keinen Zusammenhang zwischen Nationalität und Religionsausübung?

Die mentalitätengeschichtliche Seite des Themas, also der Stellenwert des Nationalitätenkonflikts im alltäglichen religiösen und kirchlichen Leben der Katholiken, bleibt demnach als Thema offen.

Darstellung und Äußerlichkeiten
Der Band beginnt mit einem umfangreichen einleitenden Teil, in dem der Autor die wichtigsten Konstellationen und Handlungsmöglichkeiten der kirchlichen Behörden beschreibt und die Hauptlinien der päpstlichen Politik insbesondere hinsichtlich der slawischen Bevölkerung nachzeichnet. In den folgenden Teilen werden der Reihe nach die einzelnen Regionen behandelt. Orientierungspunkt sind weniger die konstitutionellen als die konfessionell-nationalen Verhältnisse. Daher werden im ersten Teil Kroatien-Slawonien, Dalmatien und Küstenland behandelt, im zweiten die böhmischen Länder, dann Galizien und schließlich Ungarn.

Die Kritik an der Darbietung betrifft vor allem das Verhältnis zwischen der detaillierten Dokumentation der Quelleninhalte und der überblicksartigen Darstellung der Verläufe im großen. Zwar fehlen Zusammenfassungen nicht (die meisten Kapitel werden mit einem entsprechenden Abschnitt abgeschlossen), doch ist ganz klar, daß das Hauptinteresse in den Details liegt. Der Autor beschreibt die Vorgänge in allen Einzelheiten und stellt Abläufe und Entscheidungsprozesse Schritt für Schritt dar. Ein Teil der trockensten Details zu den vorkommenden Personen wurde in einen Anhang mit Kurzbiographien (von Päpsten, Nuntien, Bischöfen und so weiter) verschoben, was eine gute Entscheidung war. Dennoch bleibt genug für eine äußerst genaue Darstellung übrig, in der man den Schriftverkehr zur aktuell besprochenen Angelegenheit in allen Stadien mitverfolgen kann.

Dies hat dazu geführt, daß die Arbeit eine beträchtliche Länge bekommen hat: Die Untersuchung ist umfangreicher, als die Seitenzahl vermuten läßt, denn es handelt sich um einen Band in dem für solche Untersuchungen ungewöhnlichen Format A4. Dies hat auch zu einem Mangel geführt, den nicht der Autor zu verantworten hat: Da der Text nicht in Spalten gesetzt ist, sondern über die volle Seitenbreite geht, hat man extrem lange Zeilen vor sich, nämlich (gegen alle typographischen Regeln) Zeilen mit über hundert Zeichen. So etwas hemmt beim Lesen.

Es läßt sich also resümieren: Die vorliegende Arbeit behandelt mit dem Zusammenhang von Nationalität, Katholizismus und Politik in den letzten Jahrzehnten Österreich-Ungarns ein wichtiges Thema vor allem auf der Ebene der Verwaltung. Diese Untersuchung ist mindestens so gründlich und detailliert, wie man es haben möchte, und gibt ein umfassendes Bild der Abläufe insbesondere in der kirchlichen Administration. Wenig behandelt werden Positionen und Verhaltensweisen der katholischen Bevölkerung insgesamt. Themen für weiterführende Forschungen wären am besten in dieser Richtung zu suchen.

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letzte Änderung: 28.10.2015
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