Im
Jahr 1900 war Österreich-Ungarn mehrheitlich römisch-katholisch,
mit charakteristischen regionalen Unterschieden. In Cisleithanien betrug
der Katholikenanteil in den meisten Kronländern mehr als 90 Prozent.
In Schlesien war er etwas geringer (85 Prozent), in Galizien viel geringer
(46 Prozent), in der Bukowina besonders niedrig (12 Prozent). Ganz anders
waren die Verhältnisse in Ungarn. Rechnet man Kroatien-Slawonien
dazu, bestanden unter Einschluß von Fiume 101 Komitate und Munizipien.
In fünf dieser Gebietseinheiten erreichte der Katholikenanteil über
90 Prozent, in 41 nicht einmal 50 Prozent. Westungarn war zu etwa drei
Vierteln katholisch, das Gebiet zwischen Donau und Theiß zu zwei
Dritteln, Kroatien-Slawonien zu 70 Prozent. Östlich der Theiß
waren Katholiken, von lokalen Ausnahmen abgesehen, eine Minderheit.
Unter den zahlreichen sonstigen Bekenntnissen sind vor allem die Griechisch-Unierten
und die Orthodoxen zu nennen. Erstere bildeten im Großteil Ostgaliziens
die Bevölkerungsmehrheit und erreichten lokal über 85 Prozent
(in ganz Galizien 43 Prozent); ähnlich hoch war der Anteil dieser
Konfession in den anschließenden nordöstlichen Gebieten Ungarns
bis hinunter nach Siebenbürgen (Siebenbürgen insgesamt hatte
mehr als ein Viertel Unierte). Die Orthodoxen waren besonders stark in
der Bukowina (69 Prozent der Bevölkerung) vertreten, weiters im Theiß-Maros-Becken
zwischen Belgrad und Arad (mehr als 50 Prozent), aber auch in Teilen Kroatien-Slawoniens
(in ganz Kroatien-Slawonien mit 25 Prozent) und Siebenbürgens (in
ganz Siebenbürgen mit insgesamt 30 Prozent); in all diesen Regionen
gab es lokal orthodoxe Mehrheiten, die bis über 85 Prozent gingen.
Evangelische Minderheiten beider Bekenntnisse gab es besonders in Ungarn
in vielen Regionen, sie bildeten regional (etwa im Gebiet um Debreczen)
sogar eine starke Bevölkerungsmehrheit. Auch die jüdische Bevölkerung
war in Ungarn zahlreicher vertreten als in Cisleithanien.
Die unterschiedliche regionale Verteilung der Konfessionen stand auch
in Zusammenhang mit den Anteilen der Nationalitäten. Allerdings waren
die Verhältnisse nicht gerade einfach: In manchen Fällen war
die konfessionelle Grenze zugleich eine nationale Trennlinie, etwa im
Fall der ruthenisch-katholischen Kirche (einer der mit Rom unierten Gemeinschaften)
und der verschiedenen orthodoxen Kirchen (Serbisch-Orthodoxe, Rumänisch-Orthodoxe;
in der Bukowina waren auch die Ruthenen orthodox). Einige kleinere Gemeinschaften
waren im regionalen Rahmen in muttersprachlicher Hinsicht fast völlig
homogen, etwa die Reformierte Religion, zu der sich fast nur Ungarn bekannten
(und zwar obendrein fast ausschließlich solche, die keiner zweiten
Sprache mächtig waren); die Lutheraner waren meist Deutsche, in Schlesien
größerenteils Polen. Besonders in Cisleithanien bedeutete aber
die Dominanz des Katholizismus, daß katholische Deutsche neben katholischen
Tschechen, katholische Italiener neben katholischen Slowenen lebten. Auch
im konfessionell stärker durchmischten Ungarn gehörten die Katholiken
verschiedenen Nationalitäten an, waren katholische Ungarn, Slowaken,
Kroaten und Deutsche.
Von katholischer Monokultur kann aber nirgendwo die Rede sein, auch dort
nicht, wo eine ernsthafte Konkurrenz anderer Konfessionen fehlte. Denn
der Katholizismus war in sich so uneinheitlich, daß nationale Anliegen
ebenso über innerkatholische wie über interkonfessionelle Gegensätze
verfolgt werden konnten. Die katholische Kirche war somit zwar grundsätzlich
von einem universalistischen Anspruch getragen, konnte von den Auseinandersetzungen
zwischen den Nationalitäten aber nicht unberührt bleiben. Die
schwer überschaubare Geschichte des Verhältnisses zwischen Kirche,
staatlicher Politik und nationalen Interessen untersucht Andreas Gottsmann
in seiner umfangreichen Studie
Rom und die nationalen Katholizismen in der Donaumonarchie. Römischer
Universalismus, habsburgische Reichspolitik und nationale Identitäten
1878–1914. Wien (Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften)
2010 (= Publikationen des Historischen Institutes beim Österreichischen
Kulturforum in Rom I/16), 408 S., euro 77,50.
Der Autor war beziehungsweise ist Mitarbeiter des Österreichischen
Ost- und Südosteuropa-Instituts, des Österreichischen Historischen
Instituts in Rom und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Im Rahmen seiner Tätigkeit in Rom bearbeitete er die Nuntiaturberichte
aus den Pontifikaten von Leo XIII. und Pius X. und daneben eine Reihe
anderer Quellen. Die Arbeit basiert hauptsächlich auf Archivbeständen
vatikanischer Archive (der Nunziatur, des Staatssekretariats, mehrerer
Kongregationen) sowie des Österreichischen Staatsarchivs. In gewisser
Weise standen diese Quellen am Anfang der Untersuchung und prägten
in der Folge Fragestellung und Ergebnisse.
Nationalitätenfragen berührten das Geschehen in der katholischen
Kirche in vielerlei Hinsicht, wobei die Bedingungen regional und zeitlich
sehr unterschiedlich waren. Die Umstände, die zur Komplexität
des Geschehens beitrugen, werden in Gottsmanns Untersuchung teils einleitend
thematisiert, teils kristallisieren sie sich in der Darstellung der behandelten
Ereignisse heraus. Sie betreffen die Verhältnisse innerhalb der Konfessionen
und zwischen ihnen, die Rolle der staatlichen Behörden, die soziale
Stellung der Angehörigen von Nationalitäten und Konfessionen
und anderes.
Der vielleicht auffälligste Aspekt im Gesamteindruck, der sich aus
diesem Band ergibt, ist jener von der Variabilität der politischen
Auffassungen und »taktischen« Vorstellungen. So wie bei den
katholischen Laien gab es auch im katholischen Klerus im allgemeinen und
im Episkopat im besonderen ganz unterschiedliche Auffassungen über
das, was wünschenswert sei. Dies schließt auch die Päpste
des Untersuchungszeitraums (Leo XIII. und Pius X.) ein, ebenso wie die
Nuntien, die alle paar Jahre wechselten. Auch muß betont werden,
daß einzelne wichtige Entscheidungsträger gar nicht selten
ihre Auffassungen änderten. Die Schwierigkeit, zu einer umfassenden
Einschätzung der Vorgänge zu gelangen und (auch schon aus Sicht
der Zeitgenossen) eine beständige Linie auszumachen, liegt schon
in diesem leicht erratischen Charakter der Entscheidungsprozesse begründet.
Orthodoxie,
Union und die slawische Liturgie
Eine erste für die nationalen Fragen relevante Angelegenheit war
das besondere Verhältnis zwischen griechischen und römischen
Katholiken. Die katholische Kirche umfaßte auch die mit Rom unierten
Christen, die in der Konfessionsstatistik als eigene Gemeinschaften ausgewiesen
sind. Die unierten Kirchen (etwa die ruthenisch-katholische Kirche), hervorgegangen
aus der Orthodoxie und im Zug der antischismatischen Bemühungen seit
Jahrhunderten mit Rom uniert, unterscheiden sich zwar nicht dogmatisch,
wohl aber in der Liturgie und in verschiedenen kirchenrechtlichen Angelegenheiten
(zum Beispiel in der Zölibatsregelung) von der römisch-katholischen
Kirche.
Daß es die Union gab und daß zwischen lateinischen und griechischen
Katholiken gewisse Unterschiede bestanden, war an sich unproblematisch.
Relevant wurde das »Griechentum« in zweierlei Hinsicht, nämlich
im Verhältnis zwischen Katholizismus und Orthodoxie und im Umgang
mit den »slawischen« Bestrebungen innerhalb der lateinischen
Kirche.
In der Politik des Hl. Stuhls gegenüber der Orthodoxie mischte sich
das hehre Ziel, die Spaltung zu überwinden und die Union auf die
gesamte Orthodoxie auszudehnen, mit dem viel realitätsnäheren
Wunsch, Ansprüche der Orthodoxie abzuwehren. Letzteres kam aus der
engen Verflochtenheit der russischen Regierung mit der russischen Kirche,
aus panslawistischen Wünschen auf russischer Seite und daher kommenden
Ängsten, aus den beobachteten Schwierigkeit den Unionskirchen innerhalb
Rußlands mit der teilweise aggressiven Übernahmepolitik und
so weiter. Es konnte gut sein, daß Zugeständnisse statt einer
(römisch geleiteten) Union mit der Orthodoxie eine Ausdehnung des
orthodoxen (und damit russischen) Einflusses in Österreich-Ungarn
hervorbringen konnten. Der »katholische Panslawismus« (20)
als Angebot an die nichtkatholischen Slawen war daher im Episkopat umstritten
und in der österreichischen und der ungarischen Regierung unerwünscht.
Dieses »katholische panslawistische« Angebot war aber ohnehin
bescheiden. 1880 erhob Leo XIII. in seiner Enzyklika Grande munus die
Slawenapostel Cyrill und Method zu Heiligen, ein Signal sowohl an die
Orthodoxie als auch an die katholischen Slawen, aber eigentlich kein »panslawistisches«:
Cyrill und Method waren Heilige für alle Katholiken, nicht nur für
die Slawen und schon gar nicht für eine slawische »Nationalkirche«.
In der Rezeption dieses Aktes findet sich daher auch bei den Zeitgenossen
die Lesart, der Papst habe damit etwas gegen den Panslawismus getan. In
der breiteren slawischen Öffentlichkeit wurde die Kanonisierung der
Slawenapostel positiv aufgenommen, eine Dankwallfahrt slawischer, insbesondere
kroatischer Katholiken nach Rom blieb aber ein Unternehmen in überschaubaren
Dimensionen.
Die Reaktionen auf Grande munus zeigten, so wie die Enzyklika selbst,
daß es zumindest in Teilen der slawischen Bevölkerung das Bedürfnis
gab, eine slawische Identität auch in der Religionsausübung
zur Geltung bringen zu können. Hier zeigten sich aber auch rasch
die Grenzen dessen, was der Hl. Stuhl akzeptieren konnte. Ein besonders
wichtiges Thema, jedenfalls wenn man nach den Nuntiaturberichten geht,
war die Gestaltung der Liturgie, und zwar vor allem die Liturgie in der
römischen Kirche.
In der römischen Kirche war grundsätzlich die lateinische Liturgie
verbindlich, es gab aber erlaubte Ausnahmen (und abweichende Gebräuche,
bei denen nicht viel nachgefragt wurde). In einigen Gebieten Österreich-Ungarns,
in Westkroatien, Dalmatien und Istrien stand im lateinischen Ritus zum
Teil auch das Altkirchenslawische in der dafür entwickelten Schrift,
der Glagolica, in Verwendung; dies war ursprünglich ein Zugeständnis
zur Abwehr der Orthodoxie gewesen und durch päpstliche Privilegien
abgesichert. Daneben schlich sich mancherorts aus Bequemlichkeit und Unbildung
der Gebrauch der slawischen Volkssprache ein.
Die Versuche, die altslawische Liturgie weiter zu verbreiten, sind im
Kontext der eher offenen Haltung Roms gegenüber der Orthodoxie zu
sehen. Besonders aktiv war dabei der Bischof von Djakovo, Josip Juraj
Strossmayer, der von 1849 bis 1905 amtierte und in dieser Zeit das nationale
Anliegen auf kirchlicher Ebene vertrat (er war auch aktiv an der Dankwallfahrt
für Grande Munus beteiligt). Strossmayer machte schon Ende der fünfziger
Jahre Vorschläge für eine Förderung des Kirchenslawischen,
1881 forderte er geradezu die flächendeckende Wiedereinführung
dieser Liturgie in den slawischen Gebieten. Als Bischof einer slawonischen
Diözese berührte er damit unmittelbar die Interessen Ungarns
– man hielt die Einführung des Kirchenslawischen für einen
Schritt auf dem Weg zu einer südslawischen Einigung. (Auf russischer
Seite wurde eine mögliche Einführung des Kirchenslawischen in
den slawischen Gebieten Österreich-Ungarns hingegen als Teil eines
gegen die Orthodoxie gerichteten Missionierungsprogramms gesehen.) Es
berührte die »Slawenfrage« also Themen, die über
die Frage der liturgischen Sprache weit hinausgingen.
Welche Liturgie nun wirklich erlaubt wurde, war Gegenstand langer Auseinandersetzungen
auf diözesaner und Pfarrebene. Der Hl. Stuhl beabsichtigte zwar nicht,
alte den Gebrauch des Kirchenslawischen betreffende Privilegien aufzuheben,
ein Slawisierungsprogramm im Sinn Strossmayers und Gleichgesinnter lag
ihm aber fern. Praktisch ging es daher um den Nachweis, daß das
Altslawische in einem bestimmten Gebiet traditionell in Gebrauch gewesen
sei, um die Erlaubnis zu seiner weiteren Verwendung zu erhalten. Das Ergebnis
hing sowohl von lokalen Wünschen als auch von der Position des zuständigen
Bischofs ab. Gottsmann beschreibt diese Entscheidungsprozesse für
eine Reihe von Fällen im einzelnen.
Obwohl es bei diesen Entscheidungen vordergründig um die Verwendung
des Altslawischen ging, war die Rolle der zeitgenössischen Volkssprache
in der Liturgie ebenfalls zu bedenken, schon deshalb, weil, wie erwähnt,
faktisch volkssprachliche Elemente an die Stelle des Altslawischen getreten
waren. Als liturgische Sprache kam die Volkssprache für den Hl. Stuhl
allerdings nicht in Frage. Damit traf sich seine Position mit jener des
deutschen und des ungarischen Nationalismus, für den (trotz gelegentlicher
ungarischer Forderung nach ungarischer Liturgiesprache) die Forderung
nach der lateinischen Messe typisch war. Dies ist weniger kurios, als
es zunächst scheint; zwar war die lateinische Messe aus der Sicht
des Hl. Stuhls einfach ein Ergebnis der universalistischen Position der
Kirche – die Kirche sollte demnach eine Einheit und nicht eine Versammlung
von auseinanderstrebenden Nationalkirchen sein. Aus der Sicht des deutschen
und des ungarischen Nationalismus war die lateinische Messe (in charakteristischer
Akzentverschiebung) jedoch ein Instrument gegen die Verselbständigungswünsche
der slawischen Nationalitäten: eine einheitliche deutsche beziehungsweise
ungarische Messe auch für die Slawen war ohnehin nicht möglich,
aber die slawische Messe konnte man verhindern, indem man auf der verbindlichen
lateinischen Liturgie beharrte.
Bei alldem geht es um die Sakramentalien; bei der Lesung bestand mehr
Spielraum, etwa in Form der zusätzlichen Lesung in der Volkssprache.
Predigten und Gesänge waren ohnehin in der Volkssprache. Die Konflikte,
die sich dabei ergaben, kamen eher daher, daß in einem gemischtsprachigen
Gebiet bei den volkssprachlichen Teilen des Ritus eine Nationalität
gegenüber einer anderen bevorzugt wurde. Gottsmann beschreibt dies
etwa im Verhältnis der Italiener und der Slowenen in Triest und anhand
ähnlicher Fälle.
Personalpolitik
und kirchliche Gliederung
Die Bestellung von Personal ist auf Ebene der Nuntiatur in erster Linie
eine Bestellung von Bischöfen (auffällig gewordene Pfarrer zogen
seltener die Aufmerksamkeit Roms auf sich). Im Zusammenhang mit der Ernennung
von Bischöfen war der nationale Aspekt häufig ein Thema, und
da es viele Bischofsernennungen gab, liegt hier genügend Material
vor. Neben den auch sonst relevanten Aspekten (etwa der persönlichen
Integrität eines Kandidaten, seinem kirchen- und staatspolitischen
Stil, seiner Position in sonstigen die Kirche betreffenden Fragen et cetera)
entschied die Position in den nationalen Fragen in einer Reihe von Fällen
über das Ergebnis, oder jedenfalls wurden entsprechende Argumente
verwendet.
Kompliziert wurde der Entscheidungsprozeß durch den Umstand, daß
die Bischöfe nicht vom Papst, sondern vom Kaiser ernannt wurden;
faktisch wurde der unter Mitwirkung verschiedener Behörden (Statthalter,
Kultusminister – die handelnden Personen waren allenfalls auch antiklerikal,
nichtkatholisch oder atheistisch) erstellte Vorschlag allerdings mit dem
Nuntius abgesprochen. Das war, trotz einer gewissen Übereinstimmung
im Umgang mit der Nationalitätenfrage, nicht immer friktionsfrei
möglich (zusätzlich nützte der Hl. Stuhl sein Recht, aus
eigener Entscheidung Weihbischöfe ohne Sukzessionsrecht zu ernennen).
Das Hin und Her, das mit den Bischofsernennungen verbunden war, wird in
der vorliegenden Arbeit sehr detailliert und an einer Reihe von Fällen
dargestellt.
Relevant bei der Entscheidung für oder gegen einen Kandidaten waren
nationale Fragen klarerweise vor allem in gemischtsprachigen Gebieten.
Hier ging es um die politische Position von Kandidaten – rabiate,
polarisierende Nationalisten waren nicht erwünscht, und selbstverständlich
erwartete man Loyalität dem Hl. Stuhl gegenüber. In einigen
Fällen reduzierte sich die Nationalitätenfrage allerdings weitgehend
auf den Aspekt der Sprachbeherrschung: Wer etwa die drei regional relevanten
Sprachen nicht beherrschte, mochte es schwer haben, für ein Bistum
ins Betracht gezogen zu werden – also eine eher praktische und unideologische
Betrachtungsweise.
Als Weg, um die Bedeutung des Nationalitätenstreits in der kirchlichen
Verwaltung und der Seelsorge zu vermindern, wurden auch Änderungen
in der Diözesangliederung ins Spiel gebracht. Gottsmann beschreibt
dies für Böhmen; Ziel wäre die Schaffung ethnisch ziemlich
homogener Diözesen gewesen, allerdings unvermeidlicherweise unter
Einschluß kleiner (und dann wohl vollends marginalisierter) Minderheiten.
Die Vorschläge kamen nie in die Nähe der Verwirklichung.
Soziale und
politische Aspekte des Nationalismus
Die nationale Zugehörigkeit war oft mit spezifischen sozialen Unterschieden
und politischen Orientierungen verbunden, sodaß der Nationalitätenkonflikt
innerhalb der katholischen Kirche auch ein Konflikt zwischen oberen und
unteren Klassen oder ein Konflikt zwischen antiklerikal-liberalen Kräften
einerseits und Romtreuen andererseits wurde. In diesem Buch behandelte
Beispiele sind das Verhältnis zwischen der tendenziell liberalen,
einkommensstärkeren italienischen Bevölkerung in Triest und
der slowenischen Unterschicht; oder das Verhältnis zwischen den römisch-katholischen,
einkommensstarken Polen in Galizien und der ruthenischen (unierten) Unterschicht.
Die Loyalität der Bevölkerung zur Kirche stand damit auch in
Zusammenhang mit nationaler Zugehörigkeit. Im Kontext nationaler
Gegensätze und damit verbundener Fragen (etwa der Liturgie) kam es
gelegentlich zu Austritts- und Übertrittsbewegungen, oder es wurden
zumindest solche Bewegungen propagiert. Der Autor beschreibt Fälle
von angedachtem oder wirklich durchgeführtem Übertritt ganzer
Gemeinden zur Orthodoxie. Aus den behandelten Beispielen – Podraga
in Krain, Ricmanje in der Diözese Triest und so weiter – ist
ersichtlich, daß die Erklärung für einen solchen Schritt
gar nicht leicht fällt und neben nationalistischen Fragen auch alle
möglichen anderen Aspekte einschließt. Das gilt auch für
die nicht besonders erfolgreiche Los-von-Rom-Bewegung, also die Propagierung
des Übertritts zur Evangelischen oder zur Altkatholischen Kirche,
im Fall der deutschen Bevölkerung. Es entwickelte sich aus solchen
Bewegungen zwar kein Massenphänomen, das Bedrohungsgefühl war
aber nicht ohne jeden Anlaß.
Neben diesen Hauptthemen kommen etliche weitere Themen zur Sprache, etwa
Fragen der Priesterausbildung und der Publizistik, letztere vor allem
auch im Zusammenhang mit innerkirchlichen Konflikten, etwa wenn radikale
Priester im Konflikt mit dem Bischof versuchten, ihre Positionen über
eigene Zeitungen zu vertreten.
Offene Fragen
Wie eingangs beschrieben, ist die Arbeit auf Basis von Quellen insbesondere
aus der vatikanischen Verwaltung geschrieben worden. Man bekommt also
viel amtlichen Schriftverkehr (überwiegend in indirekter Form) vorgelegt,
und mit dieser Schwerpunktsetzung konzentriert sich die Untersuchung unvermeidlich
auf einen ganz spezifischen Ausschnitt des Geschehens und der Entscheidungsprozesse.
Das führt zur Frage, was in dieser Untersuchung nicht behandelt wird,
in einer Untersuchung von Katholizismus und Nationalismus aber relevant
wäre. Die Konzentration auf die Akten der kirchlichen und staatlichen
Verwaltung hat dazu geführt, daß die Stimmung in der Bevölkerung
insgesamt zwar nicht unkenntlich bleibt, aber zumeist doch ein zweitrangiges
Thema ist – sie wird eben dann thematisiert, wenn sie Argumente
für die amtlichen Korrespondenzen und sonstigen Akte liefert. Gottsmann
spricht diese Schwerpunktsetzung, die sich aus seiner Quellenbasis ergeben
hat, auch explizit an.
Zunächst ist dies einfach eine Prioritätensetzung des Autors,
seine Entscheidung, mit welchen Aspekten dieses umfassenden Themas er
sich beschäftigen will. Da es ja auch eine praktische Frage ist,
wie viel ein einzelner Autor bewältigen kann, kann man diese Schwerpunktsetzung
einfach akzeptieren. Daß trotzdem und trotz einer überaus gründlichen
und bei aller Liebe zum Detail gar nicht schlecht geschriebenen Arbeit
ein gewisser Vorbehalt bleibt, liegt aber doch auch am verwendeten Quellentyp.
Dies deshalb, weil die Perspektive, aus der die vatikanische Verwaltung
die katholische Kirche in Österreich wahrnahm, vermutlich dazu geführt
hat, daß in ihrer Korrespondenz das Konflikthafte, das es in innerkirchlichen
Entscheidungsprozessen immer gibt, gegenüber den unauffälligen,
routinemäßigen, eben nicht erwähnenswerten Angelegenheiten
übermäßiges Gewicht bekommt. Diese Vermutung gilt für
die meisten behandelten Themen: Kirchenaustritt und Konfessionswechsel,
sei es in Zusammenhang mit nationalistischen Anliegen oder aus anderen
Gründen, sind eben besonders auffällige Akte; nur kamen sie
nicht gar so oft vor. Auch das Gezerre um die Besetzung von Bischofsstühlen,
Streitigkeiten an Priesterseminaren, Konflikte von Pfarrern mit ihren
Bischöfen, von Bischöfen mit dem Nuntius, alle diese Dinge erwecken
den Eindruck, als sei der Katholizismus in Österreich-Ungarn in den
letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg in erster Linie von Konflikten
um die Nationalität bestimmt gewesen. Und daran darf man zweifeln:
Gewiß, der vorliegende Band informiert über viele Gelegenheiten,
bei denen es in der katholischen Kirche in der einen oder anderen Hinsicht
ein Nationalismus-Problem gab. Aber wie viele Bischöfe wurden ernannt,
ohne daß die Nationalität ein Thema wurde? Wie viele publizierende
Priester hatten Probleme mit ihrem Ordinarius, ohne daß nationalistische
Fragen dabei relevant gewesen wären? Wie viele hatten gar kein Problem
mit dem Bischof? Wie viele Katholiken verließen die Kirche oder
distanzierten sich innerlich, aus irgendwelchen anderen Gründen und
unabhängig von nationalistischen Aspekten? Und wie viele hatten ohnehin
kein besonderes Problem mit der Kirche oder sahen zumindest keinen Zusammenhang
zwischen Nationalität und Religionsausübung?
Die mentalitätengeschichtliche Seite des Themas, also der Stellenwert
des Nationalitätenkonflikts im alltäglichen religiösen
und kirchlichen Leben der Katholiken, bleibt demnach als Thema offen.
Darstellung
und Äußerlichkeiten
Der Band beginnt mit einem umfangreichen einleitenden Teil, in dem der
Autor die wichtigsten Konstellationen und Handlungsmöglichkeiten
der kirchlichen Behörden beschreibt und die Hauptlinien der päpstlichen
Politik insbesondere hinsichtlich der slawischen Bevölkerung nachzeichnet.
In den folgenden Teilen werden der Reihe nach die einzelnen Regionen behandelt.
Orientierungspunkt sind weniger die konstitutionellen als die konfessionell-nationalen
Verhältnisse. Daher werden im ersten Teil Kroatien-Slawonien, Dalmatien
und Küstenland behandelt, im zweiten die böhmischen Länder,
dann Galizien und schließlich Ungarn.
Die Kritik an der Darbietung betrifft vor allem das Verhältnis zwischen
der detaillierten Dokumentation der Quelleninhalte und der überblicksartigen
Darstellung der Verläufe im großen. Zwar fehlen Zusammenfassungen
nicht (die meisten Kapitel werden mit einem entsprechenden Abschnitt abgeschlossen),
doch ist ganz klar, daß das Hauptinteresse in den Details liegt.
Der Autor beschreibt die Vorgänge in allen Einzelheiten und stellt
Abläufe und Entscheidungsprozesse Schritt für Schritt dar. Ein
Teil der trockensten Details zu den vorkommenden Personen wurde in einen
Anhang mit Kurzbiographien (von Päpsten, Nuntien, Bischöfen
und so weiter) verschoben, was eine gute Entscheidung war. Dennoch bleibt
genug für eine äußerst genaue Darstellung übrig,
in der man den Schriftverkehr zur aktuell besprochenen Angelegenheit in
allen Stadien mitverfolgen kann.
Dies hat dazu geführt, daß die Arbeit eine beträchtliche
Länge bekommen hat: Die Untersuchung ist umfangreicher, als die Seitenzahl
vermuten läßt, denn es handelt sich um einen Band in dem für
solche Untersuchungen ungewöhnlichen Format A4. Dies hat auch zu
einem Mangel geführt, den nicht der Autor zu verantworten hat: Da
der Text nicht in Spalten gesetzt ist, sondern über die volle Seitenbreite
geht, hat man extrem lange Zeilen vor sich, nämlich (gegen alle typographischen
Regeln) Zeilen mit über hundert Zeichen. So etwas hemmt beim Lesen.
Es läßt sich also resümieren: Die vorliegende Arbeit behandelt
mit dem Zusammenhang von Nationalität, Katholizismus und Politik
in den letzten Jahrzehnten Österreich-Ungarns ein wichtiges Thema
vor allem auf der Ebene der Verwaltung. Diese Untersuchung ist mindestens
so gründlich und detailliert, wie man es haben möchte, und gibt
ein umfassendes Bild der Abläufe insbesondere in der kirchlichen
Administration. Wenig behandelt werden Positionen und Verhaltensweisen
der katholischen Bevölkerung insgesamt. Themen für weiterführende
Forschungen wären am besten in dieser Richtung zu suchen. |