Die Habilitationsschrift von Andrea Griesebner, für die die Autorin
an der Geistes- und Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität
Wien die Lehrbefugnis für Neuere Geschichte erhalten hat, ist eine
Sammelhabilitation, bestehend aus zehn Beiträgen (nachfolgend bezeichnet
mit A bis K) [1] zur historischen Kriminalitätsforschung mit teilweise
identischem Inhalt.
Empirische Basis
Die empirische Basis ist mit wenigen Ausnahmen für alle Aufsätze
die gleiche. Die Autorin untersucht Kriminalität am Beispiel aller
39 Strafprozesse, die zwischen 1700 und 1789 am Landgericht Perchtoldsdorf
verhandelt wurden. Den genauesten Überblick darüber liefert
der mit Abstand umfangreichste Beitrag der Sammlung, Aufsatz C, in dem
jene achtzehn Fälle referiert werden, in denen es nicht um Vermögensdelikte
ging. Für die 21 Vermögensdelikte wird eine eigene Publikation
ähnlicher Art angekündigt.
Griesebner stellt die achtzehn Fälle ziemlich detailliert dar. Im
wesentlichen geht sie einfach den Akt durch, resümiert die Einvernahmen
des Beschuldigten, die Vernehmungsprotokolle der Zeugen, das Votum des
Rechtsgutachters (de facto die Person, die das Urteil verfaßte),
die Entscheidung der niederösterreichischen Regierung. Gelegentlich
gibt es kleine Abweichungen, etwa wenn ein Beschuldigter eine sogenannte
Purgationsschrift zu seiner Verteidigung zu verfassen hatte. Im großen
und ganzen ist die Darstellung ausschließlich eine schlichte Nacherzählung
von Akten, ohne theoretischen Anspruch, durchaus lesbar, aber eigentlich
zu detailliert.
Worum geht es in diesen Prozessen? Nach heutigen Begriffen wären
die Fälle unter Mord, Tötung eines Kindes bei der Geburt, schwere
Körperverletzung, Schwangerschaftsabbruch, Verlassen eines Unmündigen,
Herabwürdigung religiöser Lehren, Ehebruch, Notzucht, Beischlaf
mit Unmündigen und Unzucht mit Unmündigen einzuordnen, in einem
Fall ging es um Sodomie. Die Autorin teilt die Fälle selbst in nicht
ganz nachvollziehbarer Weise in Gruppen ein. Zum Beispiel reiht sie einen
Fall, in dem ein Delinquent Unzucht mit seiner ebenfalls angeklagten unmündigen
Schwester trieb (C/248–252), unter »Physische Gewalt«
ein, obwohl der Täter keine Gewalt ausgeübt oder auch nur angedroht
hatte.
Die letzte Gruppe von Fällen übertitelt die Autorin mit »Eigentum
an Personen« (C/274 ff.). Gemeint sind Abtreibung und Selbstmord
(ein anderer Abtreibungsfall ist allerdings unter »Physische
Gewalt« eingeordnet); bei der Verfolgung dieser Taten sei es
darum gegangen, »Menschen das Recht auf Selbstbestimmung vorzuenthalten
und sie so als Eigentum der Grundherrschaft bzw. des Landesfürsten/der
Landesfürstin zu konstituieren« (C/274). Das ist natürlich
Unsinn, sogar dann, wenn man übergeht, daß im Fall einer Abtreibung
auch noch das ungeborene Kind tangiert ist. Immerhin ist der Schwangerschaftsabbruch
auch im heute geltenden Strafrecht in Österreich strafbar –
wessen Eigentum wären dann heute Frauen? Ergibt sich aus der Strafbarkeit
einer Mitwirkung am Selbstmord oder einer Tötung auf Verlangen, daß
die gesamte Bevölkerung in irgend jemandes anderen Eigentum steht?
Diese willkürliche Verwendung eines in seiner rechtlichen Bedeutung
wohldefinierten Terminus ist ärgerlich. Dazu kommt, daß die
Vorstellung, Grunduntertanen im Gebiet des heutigen Österreich seien
im 18. Jahrhundert persönlich unfrei gewesen, ein häufiges Mißverständnis
von Laien ist (wenngleich dabei meist nicht ein Eigentum an Personen,
also Sklaverei, sondern Leibeigenschaft vermutet wird); solche Irrtümer
bestärkt man mit derartigen Bemerkungen.
Der Beitrag ist mit »Fallbeispiele« übertitelt.
Wofür die Beispiele stehen, wird nicht erläutert. Die Fälle
werden in den anderen Beiträgen immer wieder erwähnt oder kurz
durchbesprochen. Einer von ihnen ist einziger Gegenstand des schon früher
erschienenen Aufsatzes H.[2]
Fall Riedler
In Aufsatz H geht es um Franz und Katharina Riedler, das ist der bereits
erwähnte Fall des versuchten Beischlafs eines Mannes mit seiner noch
unmündigen Halbschwester. Entgegen der Vermutung der Autorin (H/137)
handelte es sich nicht um Notzucht, da der Täter keine Gewalt einsetzte,
was nach der Theresiana (Art. 76, § 1) ein Tatbestandsmerkmal der
Notzucht ist, sondern das Kind überredete. Angeklagt und bestraft
wurde übrigens nicht nur der Täter, sondern auch das Opfer.
Der Aufsatz besteht hauptsächlich aus einer äußerst detaillierten
Wiedergabe der Akteninhalte. Einer der wenigen Punkte, zu denen die Autorin
eine eher bemühte eigene Erklärung liefert, betrifft die Verteidigung
des Täters mit dem Argument, er habe seine Tat begangen, weil seine
Ehefrau öfters des Geschlechtsverkehrs mit ihm überdrüssig
gewesen sei. Griesebner weist auf das kanonische Recht hin, das eine eheliche
Pflicht zum Geschlechtsverkehr vorsieht, und auf die antike Humoralpathologie,
»einer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach
wie vor relevanten Strömung des medizinischen Diskurses«:
»Indem die sexuelle Praxis, die regelmäßige Entleerung
der Säfte/Samen zur Reinigung des Körpers unumgänglich
sei, trägt Josepha Riedlerin [= die Ehefrau des Angeklagten; M. P.]
die eigentliche Schuld an seinen Verfehlungen.« (H/143) Da
wundert man sich direkt, daß die Riedlerin nicht bestraft wurde.
Man sollte als Kriminalhistoriker nicht alles wichtig nehmen, was Angeklagte
in Strafprozessen von sich geben – die Gerichte tun es ja auch nicht.
Gnadengesuche
In zwei Beiträgen werden die Perchtoldsdorfer Strafakten mit speziellem
Schwerpunkt ausgewertet, nämlich hinsichtlich der Gnadengesuche,
die verurteilte Delinquenten einbrachten. Es handelt sich in Wirklichkeit
um einen einzigen Text, nämlich Aufsatz I als Vollversion, in dem
Aufsatz A als kürzere und etwas anders gruppierte Fassung vollständig
enthalten ist.
In den 39 Perchtoldsdorfer Strafprozessen wurden 59 Personen zu einer
Strafe verurteilt. Fünfzehn von ihnen brachten entweder selbst ein
Gnadengesuch beim Landesfürsten ein, oder jemand anderer stellte
für sie ein solches Gesuch; Gnadengesuche wurden tendenziell nach
höheren Verurteilungen gestellt, aber nicht nur nach Todesurteilen
(und auch nicht nach jedem Todesurteil). Die Autorin untersucht Rhetorik
und Argumentation (bei Griesebner: »Argumentationsstrategien«)
der Gesuche, die Stellungnahme des Landgerichts und den Erfolg der Gnadengesuche.
Die Darstellung ist stark auf die einzelnen Fälle bezogen, was bei
der geringen Zahl von Fällen auch naheliegt.
Ferdinandea
Außer den Strafakten selbst hat sich die Autorin auch mit den geltenden
strafgesetzlichen Regelungen befaßt, insbesondere mit der für
Niederösterreich gültigen Land-Gerichts-Ordnung von 1656, auch
Ferdinandea genannt. Die Ferdinandea umfaßte Verfahrensnormen und
materiellrechtliche Regelungen. Aufsatz B bespricht die Verfahrensbestimmungen,
oder zumindest meint die Autorin dies. Tatsächlich behandelt sie
unter diesem Titel auch Milderungs- und Erschwernisgründe und die
Art der verhängten Strafen, also materiellrechtliche Angelegenheiten.
Das schadet aber nichts, weil der ganze Beitrag ohnehin nur ein Resümee
der einzelnen Artikel der Land-Gerichts-Ordnung mit gelegentlichen Zitaten
aus dem Verordnungstext ist.
Geschlecht und Kriminalität
Die geschlechtergeschichtliche Seite der Kriminalität ist jener
Bereich, in dem die Autorin über die schlichte Wiedergabe von Quelleninhalten
hinausgeht. Das Thema wird in den Aufsätzen D, E, F und G behandelt,
teilweise in wörtlicher oder annähernd wörtlicher Wiederholung.
Insbesondere gilt dies für die Aufsätze D, F und G, die in den
wesentlichen Teilen drei Varianten eines einzigen Textes sind, einmal
in der Langfassung und zweimal in unterschiedlich stark gekürzter
und redigierter Fassung. Zwei dieser Varianten, einen (kürzeren)
Vortrag F und einen (längeren) Beitrag zu einem Sammelband D, schrieb
Griesebner zusammen mit Monika Mommertz, sodaß der Leser ausnahmsweise
über die engere Umgebung von Perchtoldsdorf hinaus in die Mark Brandenburg,
den Gegenstand von Mommertz’ Dissertation, geführt wird. Von
Griesebner stammen offenkundig die Passagen über die Ferdinandea
(D/224–231, F/16–20) und der dem Leser aus den Aufsätzen
A, C, H und I bereits bestens bekannte Fall Riedler (F/17), der hier neuerlich
erzählt wird, ansonsten aber nur mehr in Aufsatz K wiederkehrt, wenn
ich nichts übersehen habe. Die dritte, kürzeste Fassung schrieb
Griesebner allein, erwartungsgemäß ohne die Brandenburg-Aspekte.
Die Überlegungen zur geschlechtergeschichtlichen Bedeutung von Kriminalität
führen die beiden Autorinnen zu zwei Hauptthesen, an denen vor allem
bemerkenswert ist, daß sie einander widersprechen und dennoch beide
falsch sind. Die erste These betrifft den Zusammenhang zwischen Quellenlage,
Wahrnehmung von Frauen und dem Bild von abweichendem Verhalten von Männern
und Frauen in der frühen Neuzeit. Die Autorinnen schreiben: »Vor
dem Hintergrund, daß wir über das Verhalten von Frauen in semioralen
bzw. illiteraten Gesellschaften oft nur über Gerichtsakten informiert
sind, gerät das als ›deviant‹ kenntlich gemachte Handeln
von Frauen unversehens zum einzig möglichen – oder aber zum
›weiblichen‹ Verhalten schlechthin: Gemessen an jenem von
Männern muß dieses fast zwangsläufig als ›defizitär‹
bzw. ohnmächtig registriert werden [Fn.]« (F/7, fast gleichlautend
D/209). Wer ist über das Verhalten von Frauen in der frühen
Neuzeit nur über Gerichtsakten informiert? Wir – das müssen
Griesebner und Mommertz sein. Da wäre es eine gute Idee, einfach
einmal andere Arten von Quellen zu konsultieren. Die Vorstellung, Frauen
würden in der frühen Neuzeit nur als deviant wahrgenommen, wird
sich dann rasch auflösen.
Mit ihrer zweiten These, eigentlich nur eine Übernahme aus der Literatur,
gehen die Autorinnen, die soeben noch gegen das angeblich bestehende Bild
von exklusiv devianten Frauen angekämpft haben, gegen die gegenteilige
Vorstellung an: »So wurde dem, wie Claudia Ulbrich es genannt
hat ›befremdlichen Statistikfetischismus‹ mancher historischer
Kriminalitätsforscherinnen und Forscher vorgeworfen, erst jene quantitativen
Befunde zu erzeugen, die scheinbar objektiv belegen, daß Frauen
mit dem Strafrecht weniger oft in Konflikt kamen als Männer. Derart
zustandegekommene Forschungsergebnisse führten vorschnell zur These
einer jenseits aller Kultur und Geschichte ›friedfertigen Frau‹,
eine These, die sich im übrigen nahtlos in gegenwärtig wirkungsmächtige
Geschlechterstereotypen einpaßt. [Fn]« (F/5, im wesentlichen
gleichlautend D/205). Frauen hätten also entgegen landläufiger
Meinung eine ähnlich starke Neigung zu Straftaten wie Männer?
Die These steht im Zusammenhang mit unklaren allgemeineren Überlegungen
über die Bedeutung des Geschlechts in der frühen Neuzeit. Griesebner
und Mommertz glauben, daß das Geschlecht nicht ein Merkmal mit lediglich
zwei möglichen Ausprägungen (nämlich männlich und
weiblich) ist, sondern daß Menschen auf einer zwischen männlich
und weiblich abgestuften Skala einzuordnen seien: »Wenn in frühneuzeitlichen
europäischen Gesellschaften die Unterschiede zwischen Frauen und
Männern nicht biologisch im modernen Sinn begründet waren, Männer
und Frauen sich nicht essentiell, sondern graduell unterschieden, so können
binäre Geschlechterkonzeptionen der Gegenwart nicht einfach in frühneuzeitliche
Gesellschaften projiziert werden. Eine solche Projektion scheint uns allerdings
dort der Fall zu sein, wo […] die historischen Individuen unhinterfragt
in Männer und Frauen sortiert und dann kontrastierend verglichen
werden. Es ist dies eine Vorgehensweise, die in der historischen Kriminalitätsforschung
dort ihren deutlichsten Ausdruck findet, wo nach ›Männern‹
und ›Frauen‹ quantifiziert wird, ohne die Problematik der
zugrundeliegenden Entitäten auch nur anzusprechen.« (F/10–11;
fast gleichlautend G/130; ähnlich D/214–215). Diese bizarre
Idee ist keine Erfindung der beiden Autorinnen, sondern hat bereits eine
gewisse Tradition in der geschlechtergeschichtlichen Literatur. Es mag
sein, daß sie im Fall Griesebners auch in deren Ausführungen
über antike Auffassungen vom männlichen und vom weiblichen Körper
begründet ist (Aufsatz E), etwa die Vorstellung, daß Frauen
als »kälter«, Männer als »wärmer«
angesehen wurden, und ähnliches. Aber das bedeutet nicht, daß
Individuen an irgendeiner Position in einem Übergangsbereich von
männlich zu weiblich eingeordnet worden wären. Dort, wo das
Geschlecht einer Person eine Rolle spielte, war auch in der Frühneuzeit
prinzipiell immer klar, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelte.
Dies ist deshalb wesentlich, weil an das Geschlecht zahlreiche rechtliche
und soziale Folgen gebunden waren; diese Folgen traten nicht abgestuft
ein, sondern je nach dem Geschlecht der betreffenden Person traten sie
unter sonst gleichen Bedingungen entweder vollständig ein, oder sie
blieben vollständig aus. Das Geschlecht bleibt also in jeder Epoche
eine dichotome Größe.
Aber das Geschlecht ist selbstverständlich nicht die einzige relevante
Größe im sozialen Geschehen, obwohl manche Autoren den Eindruck
erwecken, es sei doch so. Das bemerken auch Griesebner und Mommertz, die
die eben zitierte Äußerung wie folgt fortsetzen: »Auch
wenn die mit derartigen methodischen Ansätzen (zwangsläufig,
möchte man sagen!) zutage geförderten Unterschiede in der Tradition
des Sex-Gender-Konzeptes nicht mehr biologistisch interpretiert werden,
so bleiben dennoch alle anderen Differenzen – sei es Alter, Religion,
Familienstand, Ethnie, Rasse oder auch Klasse [Fn.] – unberücksichtigt.
Stillschweigend wird ein dualistisches und komplementäres Geschlechter-Konzept
in die Vergangenheit übertragen, welches […] konstitutiv für
moderne Auffassungen von Geschlecht ist [Fn.]« (F/11; fast
gleichlautend G/130, E/68).
Die beiden Autorinnen gelangen also zu der trivialen Erkenntnis, daß
außer dem Geschlecht meistens noch andere Umstände bedeutsam
sind und daher Männer und Frauen in den meisten Angelegenheiten keine
homogenen Gruppen bilden. Das hat aber nichts damit zu tun, ob das Geschlecht
eine dichotome Größe ist oder nicht. Wenn das Geschlecht in
einem sozialen Zusammenhang überhaupt bedeutsam ist, wirkt es immer
als zweiwertige Größe, also in der Weise, daß für
Männer unter sonst gleichen Bedingungen (etwa Alter, Religion, Familienstand,
Beruf und so weiter) mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes
anderes Ergebnis zu erwarten ist als für Frauen. Freilich kann bei
unterschiedlichen Randbedingungen auch das Endergebnis viele verschiedene
Formen annehmen, aber das liegt dann eben an den Randbedingungen und ändert
nichts am zweiwertigen Charakter des Geschlechts. Auch wenn das Geschlecht
in Interaktion mit anderen Größen (zum Beispiel mit der Zugehörigkeit
zu einem bestimmten Beruf) wirksam wird, bleibt es ein dichotomes Merkmal.
Das ist Griesebner zwar nicht recht klar, aber sie scheint zu ahnen, in
welche Richtung es vielleicht gehen könnte: »Eine der spannendsten
und zugleich schwierigsten theoretischen und methodologischen Herausforderungen
der Gegenwart liegt meines Erachtens daher darin, geeignete methodologische
Ansätze zu entwickeln, wie die Relevanz der einzelnen Machtimperative
analysiert werden kann« (E/68). Das gibt es natürlich
alles längst, die entsprechenden Verfahren sind etabliert und werden
tagtäglich mit größter Selbstverständlichkeit angewandt,
zum Beispiel von den Statistikfetischisten.
Welche Bedeutung des Geschlechts ergibt sich denn in solchen Untersuchungen,
die irgendein Geschehen als abhängig von mehreren Größen
wie etwa Geschlecht, Alter, Beruf, Wohnort und so weiter analysieren?
Eine allgemeine Erfahrung ist, daß der eigenständige direkte
Einfluß des Geschlechts zum Beispiel auf das religiöse Verhalten
oder auf wirtschaftliches Handeln [3] oft ernüchternd gering ist.
Insofern stimmt die Vermutung der Autorin, daß das Geschlecht meist
viel weniger erklärt, als manche Gläubige annehmen möchten.
Eine der auffälligsten Ausnahmen ist aber, und hier liegt der Irrtum
in der zweiten Hauptthese von Griesebner und Mommertz, die Kriminalität:
Die Kriminalität ist nämlich einer der Bereiche, in denen der
direkte Einfluß des Geschlechts auf das Verhalten am eindeutigsten
nachzuweisen ist. Das bedeutet nicht, daß es keine anderen Faktoren
gäbe, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen würden –
ein ähnlich wichtiger Faktor ist etwa das Lebensalter –, aber
der eigenständige Einfluß des Geschlechts steht außer
Zweifel und kommt in jeder multiplen und normalerweise auch in jeder einfachen
Untersuchung heraus. Dies ist klarerweise nicht so zu verstehen, daß
etwa Diebstähle nur von Männern begangen würden; vielmehr
bedeutet »eigenständiger Einfluß des Geschlechts«
in diesem Zusammenhang, daß die Wahrscheinlichkeit, daß unter
sonst gleichen Bedingungen ein Delikt von einem Mann (und nicht von einer
Frau) begangen wurde, extrem hoch ist. [4] Dies gilt für die meisten
und die quantitativ bedeutendsten Deliktgruppen. Der effiziente Detektiv
befasse sich daher unter den Anwesenden zuerst mit den Männern.
Der Zusammenhang zwischen Kriminalität und Geschlecht ist so stark,
daß die von Griesebner und Mommertz und auch anderen Autoren genannten
verzerrenden Faktoren in Wirklichkeit keine wesentliche Rolle spielen:
Zum Beispiel wurden und werden manche gesetzlichen Tatbestände geschlechtsspezifisch
gefaßt. Doch betrifft dies nur einen kleinen Bereich der Kriminalität,
und überdies kann diesem Faktor besonders leicht Rechnung getragen
werden, weil ja die gesetzlichen Bestimmungen bekannt sind. Richtig ist
auch, daß die Kriminalstatistik große Teile des tatsächlichen
Geschehens nicht erfaßt, weil die Effizienz der Strafverfolgung
nicht in allen Bereichen der Kriminalität gleich ist. Es ist aber
kein Grund ersichtlich, warum die Strafverfolgung bei Taten, die Männer
begehen, effizienter sein soll als bei gleichartigen Taten, die Frauen
begehen (was den fälschlichen Eindruck einer niedrigen Frauenkriminalität
hervorrufen würde). Wenn die Autorinnen meinen sollten, daß
etwa Delikte gegen Leib und Leben oder Vermögensdelikte, um nur zwei
besonders wichtige Gruppen zu nennen, in der frühen Neuzeit von Frauen
ähnlich häufig begangen werden wie von Männern, dann müßte
eine solche These besser begründet werden als mit dem allgemeinen
Hinweis, daß die Kriminalstatistik irgendwie nicht perfekt ist.
Es müßte zum Beispiel gezeigt werden, daß die Verfolgung
von männlichen Straftätern um vieles leichter war oder mit mehr
Aufwand durchgeführt wurde als die Verfolgung von Straftäterinnen.
Ein solcher Nachweis wird aber nicht zu erbringen sein.
Zusammenfassung I
Eine Art Zusammenfassung der anderen Arbeiten bildet Aufsatz K. Wir finden
hier »das Konstrukt der polaren ›Geschlechtscharaktere‹«,
Perchtoldsdorf, die Ferdinandea, dreizehn uns schon bekannte Fälle
in Kurzbeschreibung (kürzer als in Aufsatz C und neu gruppiert) und
Gnadengesuche. Dies alles sind »Vorläufige Ergebnisse aus
meiner Geschichtswerkstatt« (K/23). Es dürfte also noch
öfters etwas aus Perchtoldsdorf kommen.
Zusammenfassung II
»In meinen eigenen Forschungen habe ich Tausende Seiten von
Gerichtsakten, die ein südlich von Wien gelegenes Landgericht im
Laufe des 18. Jahrhunderts produzierte, transkribiert und die
Transkripte wieder und wieder gelesen« (E/61). Wie deutlich
geworden sein dürfte, macht der Leser dieser Habilitationsschrift
seine eigene déjà lu-Erfahrung schon dann, wenn er das Werk
der Autorin nur einmal von Anfang bis Ende liest. Die Fälle kehren
immer wieder, die Tathergänge werden einmal detaillierter, ein anderes
Mal in großen Zügen, aber jedenfalls immer wieder erzählt.
Die geschlechtergeschichtlichen Überlegungen folgen dem Prinzip:
Wenn ich’s dreimal sage, wird’s wahr.
Der Vorteil einer so aufgebauten Untersuchung besteht in leichter Überschaubarkeit
und einer raschen Rezeption. Zum Beispiel löst der Name Franz Riedler
beim vierten, fünften, sechsten Mal unvermeidlich die Assoziation
»unmündige Schwester – unzüchtige Handlungen –
Überredung statt Gewalt – Bestrafung des unmündigen Opfers«
aus. Franz Mayrhofer, das wird bald gleichbedeutend mit einem Messerattentat
auf den Marktrichter, zwei Aderlässen und 5 Gulden 42 Kreuzer Medizinkosten
(für den Täter, nicht für das Opfer). [5] Bekannte Texte
lesen sich schneller, die geringe Zahl an untersuchten Fällen macht
es noch leichter.
Freilich könnte man jetzt auch leise Bedenken anmelden. Ist das
wirklich genug für eine Habilitation? Perchtoldsdorf, ein ruhiger
Flecken, in dem es nicht einmal alle zwei Jahre zu einem landgerichtlichen
Strafprozeß gekommen ist – ist das wirklich ein so ergiebiges
Thema für die Kriminalitätsgeschichte des 18. Jahrhunderts oder
gar für das Fach Neuere Geschichte in seinem gesamten Umfang? Ein
paar Aufsätze, teils mehrmals aufgegossen, teils zusammen mit einer
anderen Autorin geschrieben, und immer noch alles zusammen erfreulich
kurz?
Der Schlüssel zu diesen Fragen liegt in zwei Zusätzen zum Inhaltsverzeichnis
dieser Arbeit. Zu Aufsatz B liest man: »dieses Teilkapitel ist
in der Dissertation nicht enthalten, wurde erst nach Abschluß der
Dissertation geschrieben«; zu Aufsatz C in leichter Variation:
»dieses Kapitel ist in der Dissertation nicht enthalten, wurde
erst nach Abschluß der Dissertation geschrieben.« Dissertation?
Natürlich nach der Dissertation – zuerst Diplomarbeit, dann
Dissertation, dann Habilitation, was sonst? Was hat es mit der Dissertation
auf sich?
Die Habilitationsbesprechungen im HISTORICUM berücksichtigen normalerweise
nur die Habilitationsschrift, nicht aber die sonstigen wissenschaftlichen
Arbeiten und auch nicht die Dissertationen. Dennoch sei ein Blick auf
die Dissertation von Frau Griesebner riskiert. Er bringt eine Überraschung:
Die Dissertation, und zwar die ungedruckte Fassung, wurde im Jahr 1998
fertiggestellt, die Habilitation war dann bereits 2001 fertig zur Einreichung
– eine beachtliche Leistung, denn in drei Jahren habilitiert sich
sonst, die notwendige Begabung vorausgesetzt, vielleicht ein Mathematiker,
aber doch kein Geisteswissenschaftler. Diese Leistung erstaunt umso mehr,
wenn man bedenkt, daß Griesebner bei der Abfassung der Dissertation
nicht gar so schnell war. Wie vor einiger Zeit der Tagespresse [6] zu
entnehmen war, die sich für alles mögliche interessiert (die
Instituts-Homepage kargt hingegen mit solchen Informationen), trat Griesebner
ihren Dienst am Wiener Institut für Geschichte bereits 1992 an und
verfügte schon damals zwar nicht über eine Dissertation, wohl
aber über eine gewisse, hm, Lebenserfahrung (der Standard drückt
dies indiskreterweise in Zahlen aus). Kurz gesagt, die Dissertation hat
sich hingezogen, die Habilitation ist wie der Blitz dagewesen. Hat Griesebner
die Habilitation vielleicht wirklich zum Teil schon vor Abschluß
der Dissertation geschrieben?
Leider, und das ist jetzt die große Enttäuschung, war es ganz
anders und doch genau so. Die Dissertation trug den Titel Interagierende
Differenzen. ›Vergehen‹ und ›Verbrechen‹ in einem
niederösterreichischen Landgericht im 18. Jahrhundert, und die
Druckfassung hieß Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse
vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert. [7] Doch,
es stimmt: Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert.
Ja. Malefizprozesse. Perchtoldsdorf.18. Jahrhundert. Es waren –
39 Prozesse. Es waren unsere alten Freunde, Franz Riedler, Franz Mayrhofer,
Susanna Fuxsteiner und wie sie alle heißen. Es war im Anhang ein
Resümee jedes einzelnen Prozesses einschließlich der Vermögensdelikte.
Es waren die Gnadengesuche. Es war der graduelle Unterschied zwischen
den Geschlechtern, und es war die modifizierende Rolle von Rasse und Klasse.
Es war, wovon die ganze Zeit schon die Rede ist. Das war die Dissertation.
Die Habilitation war die Dissertation ist die Habilitation. Das ist –
neu. Um Ferdinand Raimund zu variieren: Ich war zwanzig Jahr beim HISTORICUM
(zweiundzwanzig werden es, um genau zu sein, dies ist die 84. Habilitationsbesprechung),
aber das hab ich nicht erlebt. Es ist wirklich etwas Neues. Es ist das
eine neue Erkenntnis in dieser Habilitationsschrift (das Gesetz verlangt
neue wissenschaftliche Erkenntnisse in einer Habilitationsschrift), daß
eine Habilitation eine Dissertation eine Habilitation sein kann.
Ich gebe diese Erkenntnis weiter an alle, die eine Dissertation verfaßt
haben. Mit einer Dissertation meine ich nicht die sogenannten Doktorarbeiten,
die spätere sogenannte Doktoren verfassen, um in ihrem trüben
Berufsalltag eines Sparkassen-Filialleiters oder Finanzministers mit Herr
Doktor angeredet zu werden. Solche sogenannten Doktorarbeiten hinterlassen
keine Spuren in der Welt des gedruckten Wortes, nicht so sehr weil sie
meistens schlecht sind, was kein unüberwindliches Hindernis wäre,
sondern vor allem, weil die Verfasser keinen Bedarf an Publikationen haben.
Diese sogenannten Doktorarbeiten werden fünfmal kopiert und verschwinden
wohltuenderweise im Schattenreich der National-, Universitäts- und
Institutsbibliotheken. Diese Arbeiten meine ich nicht. Ich meine richtige
Dissertationen, die von Wissenschaftlern geschrieben werden, im Druck
erscheinen, Subventionsgelder verschlingen und Einladungen zu mehr oder
weniger unwichtigen Tagungen, Ringvorlesungen und dergleichen nach sich
ziehen. Einige dieser Einladungen mag es auch schon während der Arbeit
an der Dissertation gegeben haben, vor allem wenn man diese Zeit auf einem
universitären Dienstposten verbracht hat. Richtige Dissertationen
sind mit der Abgabe und Annahme der ungedruckten Arbeit nicht zu Ende.
Da wird das Manuskript für die Veröffentlichung überarbeitet,
was ein bis zwei neue Kapitel bedeutet (dafür entfallen einige nicht
druckfähige Teile der ungedruckten Fassung), Tagungen ziehen Tagungsbände
nach sich, manche Ringvorlesungen erscheinen grundlos im Druck.
Wer eine richtige Dissertation geschrieben hat, verfügt daher fast
immer über Abfall dieser Art: ergänzende Kapitel der gedruckten
Dissertation, Beiträge zu unnötigen Sammelbänden, Aufsätze
in irrelevanten Zeitschriften. Bisher wurden solche Dinge im Habilitationsverfahren
unter den »sonstigen wissenschaftlichen Arbeiten« aufgeführt,
von den Gutachtern sofort als »zur Dissertation gehörig«
klassifiziert und entsprechend unwichtig genommen.
Das ändert sich jetzt, zumindest an der Universität Wien, die
nun einen Präzedenzfall hat (wahrscheinlich werden sich andere Universitäten
von diesem Präzedenzfall nicht unbedingt beeindrucken lassen). Ab
jetzt kann man an der Universität Wien die Neben- und Abfallprodukte
seiner Dissertation als Sammelhabilitation einreichen. Man kann sich an
der Universität Wien mit seiner Dissertation habilitieren. Es sollte
funktionieren, in Zukunft. Alles andere wäre ungerecht den zukünftigen
Dissertanten gegenüber.
Anmerkungen
1. A: In via gratiae et ex plenitudine potestatis. La grazia, un elemento
costitutivo della prassi giudiziaria della prima età moderna: http://www.itc.it/ISIG/Convegni/ProgrPetiz/Griesebner-trad.html.
(11 S.)
B: Die Strafprozeßordnung, in: Andrea Griesebner, Konkurrierende
Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert,
Wien/Köln/Weimar 2000, 56–76.
C: VI. Fallstudien, in: ebenda, 177–286.
D: mit Monika Mommertz: Fragile Liebschaften? Methodologische Anmerkungen
zum Verhältnis zwischen historischer Kriminalitätsforschung und
Geschlechtergeschichte, in: Andreas Blauert/Gert Schwerhoff (Hg.), Kriminalitätsgeschichte.
Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormodernde, Konstanz
2000, 205–232.
E: Historisierte Körper. Eine Herausforderung für die Konzeptualisierung
von Geschlecht?, in: Christa Gürtler/Eva Hausbacher (Hg.), Unter
die Haut. Körperdiskurse in Geschichte(n) und Bildern. Beiträge
der 5. Frauen Ringvorlesung an der Universität Salzburg, Innsbruck/Wien
1999, 53–75.
F: mit Monika Mommertz: Historische Kriminalitätsforschung. Feministisch
perspektivierte Anmerkungen zu einem Forschungsfeld, in: Frauenrat der Universität
Konstanz (Hg.), Kriminalität und Geschlecht. Vortragsreihe im Wintersemester
1998/99, Konstanz 1999, 3–20.
G: Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen
aus der Perspektive der Frühen Neuzeit, in: Veronika Aegerter u. a.
(Hg.), Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der
Frauen- und Geschlechtergeschichte. Beiträge der 9. Schweizerischen
Historikerinnentagung 1998, Zürich 1999, 129–137.
H: »Er hat mir halt gute Wörter gegeben, daß ich es Thun
solle.« Sexuelle Gewalt im 18. Jahrhundert am Beispiel des Prozesses
gegen Katharina Riedlerin und Franz Riedler, Wiener Beiträge zur
Geschichte der Neuzeit 22 (1996), 130–155.
I: In via gratiae et ex plenitudine postestatis. Gnadengesuche als konstitutive
Elemente frühneuzeitlicher Strafpraxis, Frühneuzeit-Info
11 (2000), Heft 2, 18 S.; auch erschienen unter dem Titel: In via gratiae
et ex plenitudine postestatis. La grazia, un elemento costitutivo della
prassi giudiziaria della prima età moderna?, in: Cecilia Nubola/Andreas
Würgler (Hg.), 2001. [Beide zum Zeitpunkt der Einreichung ungedruckt]
K: Physische und sexuelle Gewalt. Eine Re-Konstruktion der Kontexte und
Beziehungskonstellationen, die gewalttätige Praktiken im Erzherzogtum
Österreich unter der Enns des 18. Jahrhunderts als Malefizverbrechen
konstituierten, in: Magnus Eriksson/Barbara Krug-Richter (Hg.), Streitkultur(en).
Studien zu Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft
(16.–19. Jh.), 2001, 30 S. [Zum Zeitpunkt der Einreichung ungedruckt]
2. Vgl. dazu meine Rezension in Historicum, Sommer 99, 39.
3. Um nur eigene Themen des Rezensenten zu nennen.
4. Dies führt dazu, daß etwa heute der Anteil der Männer
an Verurteilungen wegen Delikten gegen Leib und Leben in Österreich
bei fast neunzig Prozent liegt, ihr Anteil an Verurteilungen wegen Vermögensdelikten
bei fast achtzig Prozent.
5. A/7, C/204, I/17.
6. Der Standard, 14. Juni 2003, A4.
7. Andrea Griesebner, Interagierende Differenzen. »Vergehen«
und »Verbrechen« in einem niederösterreichischen Landgericht
im 18. Jahrhundert, Diss. Universität Wien, 1998; dies., Konkurrierende
Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert,
Wien u. a. 2000.