Frühling 2003
Habilitation Andrea Griesebner
Von Michael Pammer
Kriminalität im 18. Jahrhundert

Die Habilitationsschrift von Andrea Griesebner, für die die Autorin an der Geistes- und Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien die Lehrbefugnis für Neuere Geschichte erhalten hat, ist eine Sammelhabilitation, bestehend aus zehn Beiträgen (nachfolgend bezeichnet mit A bis K) [1] zur historischen Kriminalitätsforschung mit teilweise identischem Inhalt.

Empirische Basis

Die empirische Basis ist mit wenigen Ausnahmen für alle Aufsätze die gleiche. Die Autorin untersucht Kriminalität am Beispiel aller 39 Strafprozesse, die zwischen 1700 und 1789 am Landgericht Perchtoldsdorf verhandelt wurden. Den genauesten Überblick darüber liefert der mit Abstand umfangreichste Beitrag der Sammlung, Aufsatz C, in dem jene achtzehn Fälle referiert werden, in denen es nicht um Vermögensdelikte ging. Für die 21 Vermögensdelikte wird eine eigene Publikation ähnlicher Art angekündigt.

Griesebner stellt die achtzehn Fälle ziemlich detailliert dar. Im wesentlichen geht sie einfach den Akt durch, resümiert die Einvernahmen des Beschuldigten, die Vernehmungsprotokolle der Zeugen, das Votum des Rechtsgutachters (de facto die Person, die das Urteil verfaßte), die Entscheidung der niederösterreichischen Regierung. Gelegentlich gibt es kleine Abweichungen, etwa wenn ein Beschuldigter eine sogenannte Purgationsschrift zu seiner Verteidigung zu verfassen hatte. Im großen und ganzen ist die Darstellung ausschließlich eine schlichte Nacherzählung von Akten, ohne theoretischen Anspruch, durchaus lesbar, aber eigentlich zu detailliert.

Worum geht es in diesen Prozessen? Nach heutigen Begriffen wären die Fälle unter Mord, Tötung eines Kindes bei der Geburt, schwere Körperverletzung, Schwangerschaftsabbruch, Verlassen eines Unmündigen, Herabwürdigung religiöser Lehren, Ehebruch, Notzucht, Beischlaf mit Unmündigen und Unzucht mit Unmündigen einzuordnen, in einem Fall ging es um Sodomie. Die Autorin teilt die Fälle selbst in nicht ganz nachvollziehbarer Weise in Gruppen ein. Zum Beispiel reiht sie einen Fall, in dem ein Delinquent Unzucht mit seiner ebenfalls angeklagten unmündigen Schwester trieb (C/248–252), unter »Physische Gewalt« ein, obwohl der Täter keine Gewalt ausgeübt oder auch nur angedroht hatte.

Die letzte Gruppe von Fällen übertitelt die Autorin mit »Eigentum an Personen« (C/274 ff.). Gemeint sind Abtreibung und Selbstmord (ein anderer Abtreibungsfall ist allerdings unter »Physische Gewalt« eingeordnet); bei der Verfolgung dieser Taten sei es darum gegangen, »Menschen das Recht auf Selbstbestimmung vorzuenthalten und sie so als Eigentum der Grundherrschaft bzw. des Landesfürsten/der Landesfürstin zu konstituieren« (C/274). Das ist natürlich Unsinn, sogar dann, wenn man übergeht, daß im Fall einer Abtreibung auch noch das ungeborene Kind tangiert ist. Immerhin ist der Schwangerschaftsabbruch auch im heute geltenden Strafrecht in Österreich strafbar – wessen Eigentum wären dann heute Frauen? Ergibt sich aus der Strafbarkeit einer Mitwirkung am Selbstmord oder einer Tötung auf Verlangen, daß die gesamte Bevölkerung in irgend jemandes anderen Eigentum steht? Diese willkürliche Verwendung eines in seiner rechtlichen Bedeutung wohldefinierten Terminus ist ärgerlich. Dazu kommt, daß die Vorstellung, Grunduntertanen im Gebiet des heutigen Österreich seien im 18. Jahrhundert persönlich unfrei gewesen, ein häufiges Mißverständnis von Laien ist (wenngleich dabei meist nicht ein Eigentum an Personen, also Sklaverei, sondern Leibeigenschaft vermutet wird); solche Irrtümer bestärkt man mit derartigen Bemerkungen.

Der Beitrag ist mit »Fallbeispiele« übertitelt. Wofür die Beispiele stehen, wird nicht erläutert. Die Fälle werden in den anderen Beiträgen immer wieder erwähnt oder kurz durchbesprochen. Einer von ihnen ist einziger Gegenstand des schon früher erschienenen Aufsatzes H.[2]

Fall Riedler

In Aufsatz H geht es um Franz und Katharina Riedler, das ist der bereits erwähnte Fall des versuchten Beischlafs eines Mannes mit seiner noch unmündigen Halbschwester. Entgegen der Vermutung der Autorin (H/137) handelte es sich nicht um Notzucht, da der Täter keine Gewalt einsetzte, was nach der Theresiana (Art. 76, § 1) ein Tatbestandsmerkmal der Notzucht ist, sondern das Kind überredete. Angeklagt und bestraft wurde übrigens nicht nur der Täter, sondern auch das Opfer.

Der Aufsatz besteht hauptsächlich aus einer äußerst detaillierten Wiedergabe der Akteninhalte. Einer der wenigen Punkte, zu denen die Autorin eine eher bemühte eigene Erklärung liefert, betrifft die Verteidigung des Täters mit dem Argument, er habe seine Tat begangen, weil seine Ehefrau öfters des Geschlechtsverkehrs mit ihm überdrüssig gewesen sei. Griesebner weist auf das kanonische Recht hin, das eine eheliche Pflicht zum Geschlechtsverkehr vorsieht, und auf die antike Humoralpathologie, »einer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach wie vor relevanten Strömung des medizinischen Diskurses«: »Indem die sexuelle Praxis, die regelmäßige Entleerung der Säfte/Samen zur Reinigung des Körpers unumgänglich sei, trägt Josepha Riedlerin [= die Ehefrau des Angeklagten; M. P.] die eigentliche Schuld an seinen Verfehlungen.« (H/143) Da wundert man sich direkt, daß die Riedlerin nicht bestraft wurde. Man sollte als Kriminalhistoriker nicht alles wichtig nehmen, was Angeklagte in Strafprozessen von sich geben – die Gerichte tun es ja auch nicht.

Gnadengesuche

In zwei Beiträgen werden die Perchtoldsdorfer Strafakten mit speziellem Schwerpunkt ausgewertet, nämlich hinsichtlich der Gnadengesuche, die verurteilte Delinquenten einbrachten. Es handelt sich in Wirklichkeit um einen einzigen Text, nämlich Aufsatz I als Vollversion, in dem Aufsatz A als kürzere und etwas anders gruppierte Fassung vollständig enthalten ist.

In den 39 Perchtoldsdorfer Strafprozessen wurden 59 Personen zu einer Strafe verurteilt. Fünfzehn von ihnen brachten entweder selbst ein Gnadengesuch beim Landesfürsten ein, oder jemand anderer stellte für sie ein solches Gesuch; Gnadengesuche wurden tendenziell nach höheren Verurteilungen gestellt, aber nicht nur nach Todesurteilen (und auch nicht nach jedem Todesurteil). Die Autorin untersucht Rhetorik und Argumentation (bei Griesebner: »Argumentationsstrategien«) der Gesuche, die Stellungnahme des Landgerichts und den Erfolg der Gnadengesuche. Die Darstellung ist stark auf die einzelnen Fälle bezogen, was bei der geringen Zahl von Fällen auch naheliegt.

Ferdinandea

Außer den Strafakten selbst hat sich die Autorin auch mit den geltenden strafgesetzlichen Regelungen befaßt, insbesondere mit der für Niederösterreich gültigen Land-Gerichts-Ordnung von 1656, auch Ferdinandea genannt. Die Ferdinandea umfaßte Verfahrensnormen und materiellrechtliche Regelungen. Aufsatz B bespricht die Verfahrensbestimmungen, oder zumindest meint die Autorin dies. Tatsächlich behandelt sie unter diesem Titel auch Milderungs- und Erschwernisgründe und die Art der verhängten Strafen, also materiellrechtliche Angelegenheiten. Das schadet aber nichts, weil der ganze Beitrag ohnehin nur ein Resümee der einzelnen Artikel der Land-Gerichts-Ordnung mit gelegentlichen Zitaten aus dem Verordnungstext ist.

Geschlecht und Kriminalität

Die geschlechtergeschichtliche Seite der Kriminalität ist jener Bereich, in dem die Autorin über die schlichte Wiedergabe von Quelleninhalten hinausgeht. Das Thema wird in den Aufsätzen D, E, F und G behandelt, teilweise in wörtlicher oder annähernd wörtlicher Wiederholung. Insbesondere gilt dies für die Aufsätze D, F und G, die in den wesentlichen Teilen drei Varianten eines einzigen Textes sind, einmal in der Langfassung und zweimal in unterschiedlich stark gekürzter und redigierter Fassung. Zwei dieser Varianten, einen (kürzeren) Vortrag F und einen (längeren) Beitrag zu einem Sammelband D, schrieb Griesebner zusammen mit Monika Mommertz, sodaß der Leser ausnahmsweise über die engere Umgebung von Perchtoldsdorf hinaus in die Mark Brandenburg, den Gegenstand von Mommertz’ Dissertation, geführt wird. Von Griesebner stammen offenkundig die Passagen über die Ferdinandea (D/224–231, F/16–20) und der dem Leser aus den Aufsätzen A, C, H und I bereits bestens bekannte Fall Riedler (F/17), der hier neuerlich erzählt wird, ansonsten aber nur mehr in Aufsatz K wiederkehrt, wenn ich nichts übersehen habe. Die dritte, kürzeste Fassung schrieb Griesebner allein, erwartungsgemäß ohne die Brandenburg-Aspekte.

Die Überlegungen zur geschlechtergeschichtlichen Bedeutung von Kriminalität führen die beiden Autorinnen zu zwei Hauptthesen, an denen vor allem bemerkenswert ist, daß sie einander widersprechen und dennoch beide falsch sind. Die erste These betrifft den Zusammenhang zwischen Quellenlage, Wahrnehmung von Frauen und dem Bild von abweichendem Verhalten von Männern und Frauen in der frühen Neuzeit. Die Autorinnen schreiben: »Vor dem Hintergrund, daß wir über das Verhalten von Frauen in semioralen bzw. illiteraten Gesellschaften oft nur über Gerichtsakten informiert sind, gerät das als ›deviant‹ kenntlich gemachte Handeln von Frauen unversehens zum einzig möglichen – oder aber zum ›weiblichen‹ Verhalten schlechthin: Gemessen an jenem von Männern muß dieses fast zwangsläufig als ›defizitär‹ bzw. ohnmächtig registriert werden [Fn.]« (F/7, fast gleichlautend D/209). Wer ist über das Verhalten von Frauen in der frühen Neuzeit nur über Gerichtsakten informiert? Wir – das müssen Griesebner und Mommertz sein. Da wäre es eine gute Idee, einfach einmal andere Arten von Quellen zu konsultieren. Die Vorstellung, Frauen würden in der frühen Neuzeit nur als deviant wahrgenommen, wird sich dann rasch auflösen.

Mit ihrer zweiten These, eigentlich nur eine Übernahme aus der Literatur, gehen die Autorinnen, die soeben noch gegen das angeblich bestehende Bild von exklusiv devianten Frauen angekämpft haben, gegen die gegenteilige Vorstellung an: »So wurde dem, wie Claudia Ulbrich es genannt hat ›befremdlichen Statistikfetischismus‹ mancher historischer Kriminalitätsforscherinnen und Forscher vorgeworfen, erst jene quantitativen Befunde zu erzeugen, die scheinbar objektiv belegen, daß Frauen mit dem Strafrecht weniger oft in Konflikt kamen als Männer. Derart zustandegekommene Forschungsergebnisse führten vorschnell zur These einer jenseits aller Kultur und Geschichte ›friedfertigen Frau‹, eine These, die sich im übrigen nahtlos in gegenwärtig wirkungsmächtige Geschlechterstereotypen einpaßt. [Fn]« (F/5, im wesentlichen gleichlautend D/205). Frauen hätten also entgegen landläufiger Meinung eine ähnlich starke Neigung zu Straftaten wie Männer?

Die These steht im Zusammenhang mit unklaren allgemeineren Überlegungen über die Bedeutung des Geschlechts in der frühen Neuzeit. Griesebner und Mommertz glauben, daß das Geschlecht nicht ein Merkmal mit lediglich zwei möglichen Ausprägungen (nämlich männlich und weiblich) ist, sondern daß Menschen auf einer zwischen männlich und weiblich abgestuften Skala einzuordnen seien: »Wenn in frühneuzeitlichen europäischen Gesellschaften die Unterschiede zwischen Frauen und Männern nicht biologisch im modernen Sinn begründet waren, Männer und Frauen sich nicht essentiell, sondern graduell unterschieden, so können binäre Geschlechterkonzeptionen der Gegenwart nicht einfach in frühneuzeitliche Gesellschaften projiziert werden. Eine solche Projektion scheint uns allerdings dort der Fall zu sein, wo […] die historischen Individuen unhinterfragt in Männer und Frauen sortiert und dann kontrastierend verglichen werden. Es ist dies eine Vorgehensweise, die in der historischen Kriminalitätsforschung dort ihren deutlichsten Ausdruck findet, wo nach ›Männern‹ und ›Frauen‹ quantifiziert wird, ohne die Problematik der zugrundeliegenden Entitäten auch nur anzusprechen.« (F/10–11; fast gleichlautend G/130; ähnlich D/214–215). Diese bizarre Idee ist keine Erfindung der beiden Autorinnen, sondern hat bereits eine gewisse Tradition in der geschlechtergeschichtlichen Literatur. Es mag sein, daß sie im Fall Griesebners auch in deren Ausführungen über antike Auffassungen vom männlichen und vom weiblichen Körper begründet ist (Aufsatz E), etwa die Vorstellung, daß Frauen als »kälter«, Männer als »wärmer« angesehen wurden, und ähnliches. Aber das bedeutet nicht, daß Individuen an irgendeiner Position in einem Übergangsbereich von männlich zu weiblich eingeordnet worden wären. Dort, wo das Geschlecht einer Person eine Rolle spielte, war auch in der Frühneuzeit prinzipiell immer klar, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelte. Dies ist deshalb wesentlich, weil an das Geschlecht zahlreiche rechtliche und soziale Folgen gebunden waren; diese Folgen traten nicht abgestuft ein, sondern je nach dem Geschlecht der betreffenden Person traten sie unter sonst gleichen Bedingungen entweder vollständig ein, oder sie blieben vollständig aus. Das Geschlecht bleibt also in jeder Epoche eine dichotome Größe.

Aber das Geschlecht ist selbstverständlich nicht die einzige relevante Größe im sozialen Geschehen, obwohl manche Autoren den Eindruck erwecken, es sei doch so. Das bemerken auch Griesebner und Mommertz, die die eben zitierte Äußerung wie folgt fortsetzen: »Auch wenn die mit derartigen methodischen Ansätzen (zwangsläufig, möchte man sagen!) zutage geförderten Unterschiede in der Tradition des Sex-Gender-Konzeptes nicht mehr biologistisch interpretiert werden, so bleiben dennoch alle anderen Differenzen – sei es Alter, Religion, Familienstand, Ethnie, Rasse oder auch Klasse [Fn.] – unberücksichtigt. Stillschweigend wird ein dualistisches und komplementäres Geschlechter-Konzept in die Vergangenheit übertragen, welches […] konstitutiv für moderne Auffassungen von Geschlecht ist [Fn.]« (F/11; fast gleichlautend G/130, E/68).

Die beiden Autorinnen gelangen also zu der trivialen Erkenntnis, daß außer dem Geschlecht meistens noch andere Umstände bedeutsam sind und daher Männer und Frauen in den meisten Angelegenheiten keine homogenen Gruppen bilden. Das hat aber nichts damit zu tun, ob das Geschlecht eine dichotome Größe ist oder nicht. Wenn das Geschlecht in einem sozialen Zusammenhang überhaupt bedeutsam ist, wirkt es immer als zweiwertige Größe, also in der Weise, daß für Männer unter sonst gleichen Bedingungen (etwa Alter, Religion, Familienstand, Beruf und so weiter) mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes anderes Ergebnis zu erwarten ist als für Frauen. Freilich kann bei unterschiedlichen Randbedingungen auch das Endergebnis viele verschiedene Formen annehmen, aber das liegt dann eben an den Randbedingungen und ändert nichts am zweiwertigen Charakter des Geschlechts. Auch wenn das Geschlecht in Interaktion mit anderen Größen (zum Beispiel mit der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Beruf) wirksam wird, bleibt es ein dichotomes Merkmal. Das ist Griesebner zwar nicht recht klar, aber sie scheint zu ahnen, in welche Richtung es vielleicht gehen könnte: »Eine der spannendsten und zugleich schwierigsten theoretischen und methodologischen Herausforderungen der Gegenwart liegt meines Erachtens daher darin, geeignete methodologische Ansätze zu entwickeln, wie die Relevanz der einzelnen Machtimperative analysiert werden kann« (E/68). Das gibt es natürlich alles längst, die entsprechenden Verfahren sind etabliert und werden tagtäglich mit größter Selbstverständlichkeit angewandt, zum Beispiel von den Statistikfetischisten.

Welche Bedeutung des Geschlechts ergibt sich denn in solchen Untersuchungen, die irgendein Geschehen als abhängig von mehreren Größen wie etwa Geschlecht, Alter, Beruf, Wohnort und so weiter analysieren? Eine allgemeine Erfahrung ist, daß der eigenständige direkte Einfluß des Geschlechts zum Beispiel auf das religiöse Verhalten oder auf wirtschaftliches Handeln [3] oft ernüchternd gering ist. Insofern stimmt die Vermutung der Autorin, daß das Geschlecht meist viel weniger erklärt, als manche Gläubige annehmen möchten.

Eine der auffälligsten Ausnahmen ist aber, und hier liegt der Irrtum in der zweiten Hauptthese von Griesebner und Mommertz, die Kriminalität: Die Kriminalität ist nämlich einer der Bereiche, in denen der direkte Einfluß des Geschlechts auf das Verhalten am eindeutigsten nachzuweisen ist. Das bedeutet nicht, daß es keine anderen Faktoren gäbe, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen würden – ein ähnlich wichtiger Faktor ist etwa das Lebensalter –, aber der eigenständige Einfluß des Geschlechts steht außer Zweifel und kommt in jeder multiplen und normalerweise auch in jeder einfachen Untersuchung heraus. Dies ist klarerweise nicht so zu verstehen, daß etwa Diebstähle nur von Männern begangen würden; vielmehr bedeutet »eigenständiger Einfluß des Geschlechts« in diesem Zusammenhang, daß die Wahrscheinlichkeit, daß unter sonst gleichen Bedingungen ein Delikt von einem Mann (und nicht von einer Frau) begangen wurde, extrem hoch ist. [4] Dies gilt für die meisten und die quantitativ bedeutendsten Deliktgruppen. Der effiziente Detektiv befasse sich daher unter den Anwesenden zuerst mit den Männern.

Der Zusammenhang zwischen Kriminalität und Geschlecht ist so stark, daß die von Griesebner und Mommertz und auch anderen Autoren genannten verzerrenden Faktoren in Wirklichkeit keine wesentliche Rolle spielen: Zum Beispiel wurden und werden manche gesetzlichen Tatbestände geschlechtsspezifisch gefaßt. Doch betrifft dies nur einen kleinen Bereich der Kriminalität, und überdies kann diesem Faktor besonders leicht Rechnung getragen werden, weil ja die gesetzlichen Bestimmungen bekannt sind. Richtig ist auch, daß die Kriminalstatistik große Teile des tatsächlichen Geschehens nicht erfaßt, weil die Effizienz der Strafverfolgung nicht in allen Bereichen der Kriminalität gleich ist. Es ist aber kein Grund ersichtlich, warum die Strafverfolgung bei Taten, die Männer begehen, effizienter sein soll als bei gleichartigen Taten, die Frauen begehen (was den fälschlichen Eindruck einer niedrigen Frauenkriminalität hervorrufen würde). Wenn die Autorinnen meinen sollten, daß etwa Delikte gegen Leib und Leben oder Vermögensdelikte, um nur zwei besonders wichtige Gruppen zu nennen, in der frühen Neuzeit von Frauen ähnlich häufig begangen werden wie von Männern, dann müßte eine solche These besser begründet werden als mit dem allgemeinen Hinweis, daß die Kriminalstatistik irgendwie nicht perfekt ist. Es müßte zum Beispiel gezeigt werden, daß die Verfolgung von männlichen Straftätern um vieles leichter war oder mit mehr Aufwand durchgeführt wurde als die Verfolgung von Straftäterinnen. Ein solcher Nachweis wird aber nicht zu erbringen sein.

Zusammenfassung I

Eine Art Zusammenfassung der anderen Arbeiten bildet Aufsatz K. Wir finden hier »das Konstrukt der polaren ›Geschlechtscharaktere‹«, Perchtoldsdorf, die Ferdinandea, dreizehn uns schon bekannte Fälle in Kurzbeschreibung (kürzer als in Aufsatz C und neu gruppiert) und Gnadengesuche. Dies alles sind »Vorläufige Ergebnisse aus meiner Geschichtswerkstatt« (K/23). Es dürfte also noch öfters etwas aus Perchtoldsdorf kommen.

Zusammenfassung II

»In meinen eigenen Forschungen habe ich Tausende Seiten von Gerichtsakten, die ein südlich von Wien gelegenes Landgericht im Laufe des 18. Jahrhunderts produzierte, transkribiert und die Transkripte wieder und wieder gelesen« (E/61). Wie deutlich geworden sein dürfte, macht der Leser dieser Habilitationsschrift seine eigene déjà lu-Erfahrung schon dann, wenn er das Werk der Autorin nur einmal von Anfang bis Ende liest. Die Fälle kehren immer wieder, die Tathergänge werden einmal detaillierter, ein anderes Mal in großen Zügen, aber jedenfalls immer wieder erzählt. Die geschlechtergeschichtlichen Überlegungen folgen dem Prinzip: Wenn ich’s dreimal sage, wird’s wahr.

Der Vorteil einer so aufgebauten Untersuchung besteht in leichter Überschaubarkeit und einer raschen Rezeption. Zum Beispiel löst der Name Franz Riedler beim vierten, fünften, sechsten Mal unvermeidlich die Assoziation »unmündige Schwester – unzüchtige Handlungen – Überredung statt Gewalt – Bestrafung des unmündigen Opfers« aus. Franz Mayrhofer, das wird bald gleichbedeutend mit einem Messerattentat auf den Marktrichter, zwei Aderlässen und 5 Gulden 42 Kreuzer Medizinkosten (für den Täter, nicht für das Opfer). [5] Bekannte Texte lesen sich schneller, die geringe Zahl an untersuchten Fällen macht es noch leichter.

Freilich könnte man jetzt auch leise Bedenken anmelden. Ist das wirklich genug für eine Habilitation? Perchtoldsdorf, ein ruhiger Flecken, in dem es nicht einmal alle zwei Jahre zu einem landgerichtlichen Strafprozeß gekommen ist – ist das wirklich ein so ergiebiges Thema für die Kriminalitätsgeschichte des 18. Jahrhunderts oder gar für das Fach Neuere Geschichte in seinem gesamten Umfang? Ein paar Aufsätze, teils mehrmals aufgegossen, teils zusammen mit einer anderen Autorin geschrieben, und immer noch alles zusammen erfreulich kurz?

Der Schlüssel zu diesen Fragen liegt in zwei Zusätzen zum Inhaltsverzeichnis dieser Arbeit. Zu Aufsatz B liest man: »dieses Teilkapitel ist in der Dissertation nicht enthalten, wurde erst nach Abschluß der Dissertation geschrieben«; zu Aufsatz C in leichter Variation: »dieses Kapitel ist in der Dissertation nicht enthalten, wurde erst nach Abschluß der Dissertation geschrieben.« Dissertation? Natürlich nach der Dissertation – zuerst Diplomarbeit, dann Dissertation, dann Habilitation, was sonst? Was hat es mit der Dissertation auf sich?

Die Habilitationsbesprechungen im HISTORICUM berücksichtigen normalerweise nur die Habilitationsschrift, nicht aber die sonstigen wissenschaftlichen Arbeiten und auch nicht die Dissertationen. Dennoch sei ein Blick auf die Dissertation von Frau Griesebner riskiert. Er bringt eine Überraschung: Die Dissertation, und zwar die ungedruckte Fassung, wurde im Jahr 1998 fertiggestellt, die Habilitation war dann bereits 2001 fertig zur Einreichung – eine beachtliche Leistung, denn in drei Jahren habilitiert sich sonst, die notwendige Begabung vorausgesetzt, vielleicht ein Mathematiker, aber doch kein Geisteswissenschaftler. Diese Leistung erstaunt umso mehr, wenn man bedenkt, daß Griesebner bei der Abfassung der Dissertation nicht gar so schnell war. Wie vor einiger Zeit der Tagespresse [6] zu entnehmen war, die sich für alles mögliche interessiert (die Instituts-Homepage kargt hingegen mit solchen Informationen), trat Griesebner ihren Dienst am Wiener Institut für Geschichte bereits 1992 an und verfügte schon damals zwar nicht über eine Dissertation, wohl aber über eine gewisse, hm, Lebenserfahrung (der Standard drückt dies indiskreterweise in Zahlen aus). Kurz gesagt, die Dissertation hat sich hingezogen, die Habilitation ist wie der Blitz dagewesen. Hat Griesebner die Habilitation vielleicht wirklich zum Teil schon vor Abschluß der Dissertation geschrieben?

Leider, und das ist jetzt die große Enttäuschung, war es ganz anders und doch genau so. Die Dissertation trug den Titel Interagierende Differenzen. ›Vergehen‹ und ›Verbrechen‹ in einem niederösterreichischen Landgericht im 18. Jahrhundert, und die Druckfassung hieß Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert. [7] Doch, es stimmt: Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert. Ja. Malefizprozesse. Perchtoldsdorf.18. Jahrhundert. Es waren – 39 Prozesse. Es waren unsere alten Freunde, Franz Riedler, Franz Mayrhofer, Susanna Fuxsteiner und wie sie alle heißen. Es war im Anhang ein Resümee jedes einzelnen Prozesses einschließlich der Vermögensdelikte. Es waren die Gnadengesuche. Es war der graduelle Unterschied zwischen den Geschlechtern, und es war die modifizierende Rolle von Rasse und Klasse. Es war, wovon die ganze Zeit schon die Rede ist. Das war die Dissertation. Die Habilitation war die Dissertation ist die Habilitation. Das ist – neu. Um Ferdinand Raimund zu variieren: Ich war zwanzig Jahr beim HISTORICUM (zweiundzwanzig werden es, um genau zu sein, dies ist die 84. Habilitationsbesprechung), aber das hab ich nicht erlebt. Es ist wirklich etwas Neues. Es ist das eine neue Erkenntnis in dieser Habilitationsschrift (das Gesetz verlangt neue wissenschaftliche Erkenntnisse in einer Habilitationsschrift), daß eine Habilitation eine Dissertation eine Habilitation sein kann.

Ich gebe diese Erkenntnis weiter an alle, die eine Dissertation verfaßt haben. Mit einer Dissertation meine ich nicht die sogenannten Doktorarbeiten, die spätere sogenannte Doktoren verfassen, um in ihrem trüben Berufsalltag eines Sparkassen-Filialleiters oder Finanzministers mit Herr Doktor angeredet zu werden. Solche sogenannten Doktorarbeiten hinterlassen keine Spuren in der Welt des gedruckten Wortes, nicht so sehr weil sie meistens schlecht sind, was kein unüberwindliches Hindernis wäre, sondern vor allem, weil die Verfasser keinen Bedarf an Publikationen haben. Diese sogenannten Doktorarbeiten werden fünfmal kopiert und verschwinden wohltuenderweise im Schattenreich der National-, Universitäts- und Institutsbibliotheken. Diese Arbeiten meine ich nicht. Ich meine richtige Dissertationen, die von Wissenschaftlern geschrieben werden, im Druck erscheinen, Subventionsgelder verschlingen und Einladungen zu mehr oder weniger unwichtigen Tagungen, Ringvorlesungen und dergleichen nach sich ziehen. Einige dieser Einladungen mag es auch schon während der Arbeit an der Dissertation gegeben haben, vor allem wenn man diese Zeit auf einem universitären Dienstposten verbracht hat. Richtige Dissertationen sind mit der Abgabe und Annahme der ungedruckten Arbeit nicht zu Ende. Da wird das Manuskript für die Veröffentlichung überarbeitet, was ein bis zwei neue Kapitel bedeutet (dafür entfallen einige nicht druckfähige Teile der ungedruckten Fassung), Tagungen ziehen Tagungsbände nach sich, manche Ringvorlesungen erscheinen grundlos im Druck.

Wer eine richtige Dissertation geschrieben hat, verfügt daher fast immer über Abfall dieser Art: ergänzende Kapitel der gedruckten Dissertation, Beiträge zu unnötigen Sammelbänden, Aufsätze in irrelevanten Zeitschriften. Bisher wurden solche Dinge im Habilitationsverfahren unter den »sonstigen wissenschaftlichen Arbeiten« aufgeführt, von den Gutachtern sofort als »zur Dissertation gehörig« klassifiziert und entsprechend unwichtig genommen.

Das ändert sich jetzt, zumindest an der Universität Wien, die nun einen Präzedenzfall hat (wahrscheinlich werden sich andere Universitäten von diesem Präzedenzfall nicht unbedingt beeindrucken lassen). Ab jetzt kann man an der Universität Wien die Neben- und Abfallprodukte seiner Dissertation als Sammelhabilitation einreichen. Man kann sich an der Universität Wien mit seiner Dissertation habilitieren. Es sollte funktionieren, in Zukunft. Alles andere wäre ungerecht den zukünftigen Dissertanten gegenüber.


Anmerkungen

1. A: In via gratiae et ex plenitudine potestatis. La grazia, un elemento costitutivo della prassi giudiziaria della prima età moderna: http://www.itc.it/ISIG/Convegni/ProgrPetiz/Griesebner-trad.html. (11 S.)
B: Die Strafprozeßordnung, in: Andrea Griesebner, Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2000, 56–76.
C: VI. Fallstudien, in: ebenda, 177–286.
D: mit Monika Mommertz: Fragile Liebschaften? Methodologische Anmerkungen zum Verhältnis zwischen historischer Kriminalitätsforschung und Geschlechtergeschichte, in: Andreas Blauert/Gert Schwerhoff (Hg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormodernde, Konstanz 2000, 205–232.
E: Historisierte Körper. Eine Herausforderung für die Konzeptualisierung von Geschlecht?, in: Christa Gürtler/Eva Hausbacher (Hg.), Unter die Haut. Körperdiskurse in Geschichte(n) und Bildern. Beiträge der 5. Frauen Ringvorlesung an der Universität Salzburg, Innsbruck/Wien 1999, 53–75.
F: mit Monika Mommertz: Historische Kriminalitätsforschung. Feministisch perspektivierte Anmerkungen zu einem Forschungsfeld, in: Frauenrat der Universität Konstanz (Hg.), Kriminalität und Geschlecht. Vortragsreihe im Wintersemester 1998/99, Konstanz 1999, 3–20.
G: Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit, in: Veronika Aegerter u. a. (Hg.), Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Beiträge der 9. Schweizerischen Historikerinnentagung 1998, Zürich 1999, 129–137.
H: »Er hat mir halt gute Wörter gegeben, daß ich es Thun solle.« Sexuelle Gewalt im 18. Jahrhundert am Beispiel des Prozesses gegen Katharina Riedlerin und Franz Riedler, Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 22 (1996), 130–155.
I: In via gratiae et ex plenitudine postestatis. Gnadengesuche als konstitutive Elemente frühneuzeitlicher Strafpraxis, Frühneuzeit-Info 11 (2000), Heft 2, 18 S.; auch erschienen unter dem Titel: In via gratiae et ex plenitudine postestatis. La grazia, un elemento costitutivo della prassi giudiziaria della prima età moderna?, in: Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hg.), 2001. [Beide zum Zeitpunkt der Einreichung ungedruckt]
K: Physische und sexuelle Gewalt. Eine Re-Konstruktion der Kontexte und Beziehungskonstellationen, die gewalttätige Praktiken im Erzherzogtum Österreich unter der Enns des 18. Jahrhunderts als Malefizverbrechen konstituierten, in: Magnus Eriksson/Barbara Krug-Richter (Hg.), Streitkultur(en). Studien zu Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.–19. Jh.), 2001, 30 S. [Zum Zeitpunkt der Einreichung ungedruckt]
2. Vgl. dazu meine Rezension in Historicum, Sommer 99, 39.
3. Um nur eigene Themen des Rezensenten zu nennen.
4. Dies führt dazu, daß etwa heute der Anteil der Männer an Verurteilungen wegen Delikten gegen Leib und Leben in Österreich bei fast neunzig Prozent liegt, ihr Anteil an Verurteilungen wegen Vermögensdelikten bei fast achtzig Prozent.
5. A/7, C/204, I/17.
6. Der Standard, 14. Juni 2003, A4.
7. Andrea Griesebner, Interagierende Differenzen. »Vergehen« und »Verbrechen« in einem niederösterreichischen Landgericht im 18. Jahrhundert, Diss. Universität Wien, 1998; dies., Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien u. a. 2000.

 

 

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letzte Änderung: 21.06.2015
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