Sommer 98
Habilitation Daniela Hammer-Tugendhat
Von Josef Fritsch
Geschlechterbeziehungen in der Kunst
Fünf Aufsätze unter dem Übertitel Studien zur Geschichte der Geschlechterbeziehung in der Kunst hat Daniela Hammer-Tugendhat am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien als kumulative Habilitationsschrift vorgelegt.1 Der Untersuchungszeitraum der Beiträge reicht vom Hochmittelalter bis Tizian und im letzten Fall bis ins späte 19. Jahrhundert, inhaltlich konzentrieren sich die Beiträge auf geschlechtergeschichtlich relevante Fragen, die anhand weniger Künstler beziehungsweise Werke behandelt werden. Breiter angelegt ist der erste Aufsatz, der in einem über Jahrhunderte gehenden Vergleich die Veränderungen in der künstlerischen Darstellung eines bestimmten Lasters von der Romanik zur Gotik nachzeichnet und interpretiert.

Luxuria

Es handelt sich um die Luxuria, also um das Laster der Wollust. Die Wollust war, wie die Autorin darlegt, in der mittelalterlichen Theologie im Gefolge von Augustinus nicht populär und stellte eine Sünde dar, eine von den sieben Hauptsünden (nicht Todsünden, wie die Autorin meint). Eine Sünde war die Wollust prinzipiell auch dann, wenn der Geschlechtsakt eigentlich zum Zweck der Erzeugung von Nachkommen ausgeübt wurde und sich die Lust nur nebenher einstellte. Daß diese augustinische Auffassung »auch heute noch gültiger Bestandteil kirchlicher Theologie« (S. 13) sei, ist indessen falsch, jedenfalls wenn dabei die katholische Kirche gemeint sein sollte. Hammer-Tugendhat untersucht, inwieweit negative Bewertungen von Lust und Sexualität in Darstellungen der Luxuria zum Ausdruck kommen, und stellt für die gotische Kunst zum Unterschied von der romanischen fest, daß sie die Luxuria meist in einer Weise zeigt, die keine solchen negativen Konnotationen erkennen läßt, so etwa in Gestalt der auf einem Bock reitenden nackten Frau, wie sie auf einer Konsole in St. Etienne in Auxerre aus dem 14. Jahrhundert zu sehen ist. Dies ist Anlaß zu Überlegungen, ob eine solche Entwicklung Rückschlüsse auf eine entsprechende Veränderung im Verhältnis zwischen den Geschlechtern zuläßt, was Hammer-Tugendhat verneint; statt dessen, so ihre These, habe sich der Einfluß des Klerus auf die künstlerische Gestaltung im Lauf der Zeit vermindert, und Laien hätten nun stärker bestimmt, wie gewisse Inhalte ausgedrückt worden seien. Überzeugend an dieser These ist jedenfalls, daß Kunst nicht einfach als »Übersetzung« von ideologischen Vorstellungen aufzufassen ist, sondern Ergebnis eines komplexen Wechselspiels ist, in dem freilich auch theologische Spekulationen eine Rolle spielen.

Unter dem Kriterium der »Geschlechterbeziehung« wären zu diesem Aufsatz einige Anmerkungen zu machen. Entgegen Hammer-Tugendhats Behauptung ist Luxuria durchaus nicht »selbstredend« eine Frau (S. 14), obwohl die Darstellung dieses Lasters als Frau häufiger ist. Abgesehen von den Beispielen einer Luxuria-Darstellung durch ein Liebespaar, die die Autorin selbst erwähnt, sind in diesem Zusammenhang Abbildungen der Luxuria als Mann zu nennen, so auch in der einprägsamen Darstellung des Reiters auf einem Bock, wie auf einem Kapitell in St. Nectaire aus dem 12. Jahrhundert. Dieser letztere Fall ist übrigens auch ein Beispiel für eine romanische Darstellung der Luxuria, die in der moralisierenden Bewertung ähnlich neutral ausfällt, wie es Hammer-Tugendhat für die gotische Kunst behauptet.

Auch sonst sind die Rollen der Geschlechter im Mittelalter nicht in allen Stücken so grundverschieden, wie von Hammer-Tugendhat geargwöhnt. So zitiert die Autorin Joachim Bumkes Höfische Kultur, daß Ehebruch nach mittelalterlicher Rechtsauffassung ein Delikt gewesen sei, das nur von Frauen begangen werden konnte, während der Mann so wie auch bei Vergewaltigungen straffrei ausgegangen sei. Allerdings setzt Bumke selbst im zitierten Werk mit einer anekdotischen Aufzählung von Fällen fort, in denen männliche Ehebrecher vor allem von den betroffenen Ehemännern empfindlich bestraft, insbesondere auch verstümmelt und getötet wurden. Die Tötung eines auf der Tat betretenen Ehebrechers war nämlich in einer Reihe von Rechten erlaubt, wie schon bei Grimm (Deutsche Rechtsaltertümer, S. 743-744) nachzulesen ist. Aus dem Sachsenspiegel ergibt sich, daß bei Ehebruch (ohne daß für männliche Täter besondere Schonung vorgesehen wäre) und bei Vergewaltigung einer Frau die Enthauptung des Täters vorgesehen war. Es kann also keine Rede davon sein, daß Männer im Mittelalter straffrei Vergewaltigungen und Ehebruch begehen konnten.

Van Eyck

Jan Van Eyck produzierte einige wenige Aktbilder, von denen überdies nur die beiden Bilder von Adam und Eva vom Genter Altar erhalten sind. Zwei weitere Bilder sind verloren, davon ist eines in Form zweier Kopien überliefert, ein anderes nur aufgrund eines Berichtes des Zeitgenossen Bartolomäus Facius bekannt. Zunächst vergleicht Hammer-Tugendhat die beiden Genter Tafeln, die bei aufgeklapptem Altar in der oberen Hälfte links und rechts außen zu sehen sind. Aufgrund ihres Oberflächennaturalismus beeindruckten sie Zeitgenossen und Nachwelt und schockierten sie auch manchmal (eine Zeitlang wurden die Tafeln durch Kopien ersetzt, auf denen Adam und Eva züchtig mit Fellen bekleidet sind). Der Charakterisierung der Autorin, wonach Adam nach der Körperhaltung und der Modellierung der Muskulatur im Vergleich zu Eva als aktiver und dynamischer gekennzeichnet wird, ist zuzustimmen. In weiterer Folge interpretiert Hammer-Tugendhat diese unterschiedliche Darstellungsweise vorsichtig als hierarchische Unterordnung Evas unter Adam, was jedoch aus dem Werk selbst nicht abgeleitet werden kann (der von der Autorin in diesem Zusammenhang erwähnte Umstand, daß über Adam das Opfer Kain und Abels dargestellt ist, über Eva aber der Brudermord, beruht auf einem Zufall - der Altar ist von links nach rechts zu lesen, weshalb das Opfer links und der Brudermord rechts plaziert sind; und in der Bildtradition des Sündenfalls stehen eben zufällig auch Adam links und Eva rechts).

Die beiden verlorenen Bilder Van Eycks stellen Badeszenen dar, auf denen nackte Frauen zu sehen sind. Inhaltlich wurden sie auf verschiedene Weise (etwa als Bathseba oder Judith) gedeutet, Hammer-Tugendhat bevorzugt eine Interpretation, die von biblischen oder allegorischen Bezügen weitgehend losgelöst ist. Demnach ginge es Van Eyck darum, das Aktbild auf die Darstellung des weiblichen Körpers zu reduzieren »und gleichzeitig den Mann aus dem erotischen Bilde zu eliminieren und ihm den Platz als Betrachter vor dem Bild zuzuweisen« (S. 92). Jan Van Eyck habe wesentlich dazu beigetragen, daß bereits ab der Renaissance und spätestens ab dem 16. Jahrhundert Aktdarstellungen überwiegend auf Bilder von Frauen beschränkt würden, während der männliche Akt mit Ausnahme des weiterhin wichtigen Bereichs öffentlicher repräsentativer Darstellungen verschwinden würde. Das erotische Aktbild würde in der Neuzeit ein Bild von Frauen: »Alles, was mit Körper, Sexualität, Erotik und Natur verbunden ist, wird mit der Frau identifiziert« (S. 93). Abgesehen davon, daß der Einfluß Van Eycks angesichts von gezählten zwei (verlorenen) Bildern mit einschlägiger Thematik bezweifelt werden kann, muß der These Hammer-Tugendhats auch sonst widersprochen werden, obwohl grundsätzlich von der Produktionsseite her die Vorstellung von geschlechtsspezifischer erotischer Kunst nicht unplausibel ist, waren doch fast alle Künstler und viele (wenn auch nicht alle) Auftraggeber Männer. Es ist auch keine Frage, daß in der Neuzeit mehr weibliche Akte als männliche Akte gemalt wurden. Dennoch lassen sich auch nach dem 16. Jahrhundert zahlreiche Beispiele von Kunstwerken finden, in denen nackte Männer eindeutig in erotischem (auch homoerotischem, wie etwa bei J. Broc) Zusammenhang dargestellt sind. So wie bei den weiblichen Akten werden häufig auch religiöse, mythologische oder historische Sujets als Vorwand für die Herstellung männlicher Akte genommen, das wichtigste darunter (vom gekreuzigten Christus und Adam und Eva abgesehen) der hl. Sebastian in unzähligen Darstellungen, weiters diverse öfters vorkommende Themen aus der antiken Mythologie (Amor und Psyche, Ganymed), aber auch entlegenere Themen wie Hero beweint den toten Leander (Jan van den Hoecke, Wien), Bacchus und Ceres (bei Bartholomäus Spranger in Wien mit einem nackten Bacchus und einer bekleideten Ceres), ein unmotiviert nackter Charon bei Pierre Subleyras (Paris) oder Jacques-Louis Davids ebenso unmotiviert nackte Spartaner bei den Thermopylen (Paris) und so weiter. Sogar den Mann im Bad als Gegenstück zu Van Eycks Badebildern gibt es bei Gustave Caillebotte (Josefowitz Collection); und ein Jahrhundert früher Pierre-Paul Prud’hons Das Bad, mit einem nackten Mann und einer nackten Frau in seelenvoller Zweisamkeit. Daß es einen »männlichen Blick« in der Malerei sowohl beim Maler als auch beim Betrachter (nicht jedoch bei der Betrachterin!) geben mag, wird damit nicht bestritten, doch sind Hammer-Tugendhats Verallgemeinerungen einfach überzogen.

Garten der Lüste

Hieronymus Boschs Garten der Lüste (Madrid) wurde in der Literatur meist so interpretiert, daß der Maler Vorstellungen aus der theologischen Morallehre in ein Bild transponieren wollte. Der Garten der Lüste steht in der Mitte des Triptychons, links und rechts sind das Paradies beziehungsweise die Hölle dargestellt. Hammer-Tugendhat wendet sich gegen eine moralisierende Interpretation, besonders wegen des idyllisierenden Grundzugs der Mitteltafel, die nicht die Abscheulichkeit des Lasters vor Augen führen würde, sondern einen heiteren, unkomplizierten Umgang mit verpönten Sachen. Hier wäre allerdings zu bedenken, daß in der (gar nicht so häufig dargestellten) Gegenüberstellung der Erde mit dem Jenseits, ob Gericht, Paradies oder Hölle, die Erde auch sonst nicht ein Ort des Schreckens sein muß. Irdische Verzweiflung mag in eschatologischen Darstellungen wie den Antichrist-Szenen Luca Signorellis in Orvieto durchaus vorkommen, in anderen Zusammenhängen wie etwa dem Triumph des Todes im Camposanto von Pisa finden sich dagegen sehr wohl idyllisierende irdische Szenen. Die Schrecken des Lasters werden eben erst in der Hölle wirklich offenbar. Dennoch ist der Garten der Lüste ein so ungewöhnliches Werk, daß die Interpretation der Autorin zutreffen mag. Daß der Maler mit diesem Werk »einen objektiven Widerspruch zur Sexualunterdrückung der Inquisition« (S. 42) erhoben habe, wie die Autorin abschließend meint, geht indessen zu weit; die Äußerung geht darauf zurück, daß Hammer-Tugendhat die Inquisition auf eine Institution zur Bekämpfung des Hexenwesens reduziert und die Hexenjagd ihrerseits nur als Aktion zur sexuellen Unterdrückung auffaßt. Tatsächlich war die Inquisition weit mehr als Hexenjagd (und die Bekämpfung der Katharer war schon gar keine Unterdrückung hemmungsloser Sexualität), und auch die Hexenjagd selbst geht auf eine komplexe Vorstellungswelt zurück und ist nicht nur durch die Verfolgung vermeintlicher sexueller Vergehen motiviert. Hammer-Tugendhats Fixierung auf den Hexenhammer als Quelle für die Erklärung der Hexenjagd (der Hexenhammer ist nur das bekannteste unter vielen einschlägigen Traktaten) hat die Autorin auf diese Weise in die Irre geführt.

Tizian

Der Aufsatz über die Aktmalerei Tizians ist für diese Sammlung neu verfaßt worden. Das Hauptthema ist der Blick auf die nackte Frau, was sowohl den Blick anderer Protagonisten im Bild als auch den Blick des Kunstbetrachters meint. Die wahrscheinlich extremsten Beispiele für den Blick des Mannes auf die nackte Frau bieten die in mehreren Fassungen erhaltenen Bilder Venus und Orgelspieler beziehungsweise Venus und Lautenspieler, wo eine nackte liegende Venus zu sehen ist, die von einem orgel- oder lautenspielenden bekleideten Mann ungeniert betrachtet wird. Bilder mit Männern, die nackte Frauen anschauen, sind auch bei anderen Malern öfters zu finden, bei einigen Bildtypen sind sie vom Sujet her vorgegeben, so bei der Susanna im Bade oder bei Bathseba. Hammer-Tugendhats These geht dahin, daß bei diesen Bildern tendenziell die Frauen in den Vordergrund gerückt werden und die schauenden Männer in die Unauffälligkeit verschwinden oder gar nicht mehr vorkommen, sodaß der Betrachter selbst die Position des Voyeurs einnehmen muß oder darf. Dies gelte auch für Bilder mit Vergewaltigungsszenen wie Lukretia-Darstellungen, in denen schließlich der Vergewaltiger verschwinden würde und nur mehr die vergewaltigte Frau dem Blick dargeboten werde.

Mit der These vom voyeuristischen männlichen Blick im Bild und vor dem Bild dürfte Hammer-Tugendhat richtig liegen, doch ist die extreme Formulierung ihrer These wieder überzogen. Abgesehen davon, daß auch Frauen die Bilder sehen, wird in Tizians Venus und Musiker-Bildern der Musiker eben gerade nicht unauffällig behandelt, sondern seine Rolle als Voyeur wird entsprechend herausgestrichen. Zum anderen stellen die Vergewaltigungsbilder wahrlich kein Beispiel für ein »Unsichtbarwerden und die damit implizierte Verdrängung männlichen Begehrens und männlicher Gewalt« (S. 18) dar - dies wird bereits in den von Hammer-Tugendhat selbst beigebrachten Beispielen deutlich, wo Marcantonio Raimondi und Tintoretto den Vergewaltiger nackt zeigen und insbesondere bei Tintoretto und Tizian ein ausgesprochen gewalttätiger Eindruck entsteht. Ganz gegen die These Hammer-Tugendhats stehen auch andere Beispiele wie etwa Guercinos Amnon verjagt Tamar, nachdem er sie vergewaltigt hat (Washington), wo die Gewalttätigkeit und Grausamkeit des (wieder nackt dargestellten) Mannes drastisch vor Augen geführt werden. Nicht richtig ist auch die Auffassung der Autorin, daß in Bildern, in denen Frauen wachen und Männer schlafen, »die weiblichen Figuren niemals die nackten Männer betrachten, wie dies umgekehrt immer der Fall ist« (S. 9). Zu den beiden von Hammer-Tugendhat dafür gebrachten Belegen (bei Botticellis Mars und Venus (London) scheint Venus tatsächlich knapp am schlafenden Mars vorbeizublicken) lassen sich ohne weiteres Gegenbeispiele bringen, so Francesco Solimenas Diana und Endymion (Liverpool), wo der nackte Jüngling von der Göttin mit größtem Interesse betrachtet wird, oder die Entführung des Kephalos vom selben Maler (früher im Belvedere, jetzt zerstört).

Die bösen Mütter

Die bösen Mütter heißt ein Bild des Trentiner Malers Giovanni Segantini aus dem Jahr 1894, das sich heute in der Neuen Galerie in der Stallburg in Wien befindet. Das Bild ist von einem Gedicht von Luigi Illica angeregt und zeigt (außer Frauen im Hintergrund) unter anderem im Vordergrund eines weiten Schneefelds einen Baum mit dürren Ästen, in dessen Krone sich eine Frau befindet. Aus einem Baumast wächst ein Kinderkopf hervor, der an der Brust der Frau saugt. Es ist dies eine genaue Umsetzung der betreffenden Passage in Illicas Gedicht: »Das Phantasma zu dem süßen Ruf/ fliegend eilt und bietet dem zitternden Ast/ die Brust, die Seele./ o Wunder! Sieh! Dem Ast schlägt ein Herz!/ Der Ast hat Leben!/ Nun! Es ist das Gesicht eines Kindes, das an der Brust saugt« (S. 149). Das Bild wurde in der Literatur in unterschiedlicher Weise kommentiert, wobei die Interpreten so manche Dinge dargestellt sahen, die Segantini gar nicht gemalt hat, sondern von denen sie aufgrund der Lektüre annahmen, daß sie dasein könnten. Es ist zu begrüßen, daß sich Hammer-Tugendhat gegenüber solchen Kommentaren um eine nüchterne Beschreibung des Bildes bemüht.

Ihre eigene Interpretation mündet allerdings dann doch wieder in Vorstellungen, die ebenfalls assoziativen Charakter haben, wenn sie auch nicht so offenkundig falsch sind wie manches, was andere Autoren bemerkten. Hammer-Tugendhats Auffassung von dem Bild läuft darauf hinaus, daß Segantini mit den Bösen Müttern ein Bild von einer orgastischen Frau gemalt habe und, da es sich zugleich um eine stillende Frau handelt, den »Konflikt zwischen dem Bild der Frau als Mutter und als erotisch-sexueller Frau« thematisiere (S. 151-152). Die Interpretation der Autorin stützt sich auf ein anderes Bild Segantinis, Liebesgöttin (Mailand, Galleria d’Arte Moderna), auf dem eine Liebesgöttin in einer Haltung dargestellt ist, die der der Frau in Die bösen Mütter ähnelt. Ebenso gibt es Parallelen mit der Farblithographie Madonna (Empfängnis) von Edvard Munch. Im weiteren führt Hammer-Tugendhat aus: »Die Widersprüche in der ästhetischen Struktur und in der Bedeutung der ikonographischen Elemente verweisen auf die patriarchale Doppelmoral. Sie ermöglicht dem männlichen Künstler und Betrachter die erotischen Reize der Frau zu genießen und dabei gleichzeitig die Frau moralisch zu verurteilen« (S. 157). Abgesehen davon, daß ein »Widerspruch« im Bild nicht zu erkennen ist (und auch schwer vorstellbar ist, worin er bestehen könnte), sondern nach Hammer-Tugendhats Lesart lediglich ein Konflikt, geht die Interpretation der Autorin ziemlich weit. Plausibel ist schon aus den eigenen Äußerungen des Malers die Annahme, daß das Bild einen moralisierenden Zug hat: »Als ich die schlechten Mütter strafen wollte und die eitlen und unfruchtbaren Wollüstigen, malte ich die Strafe im FegefeuerŽ« (S. 150) (das Bild wurde von Segantini unter verschiedenen Titeln geführt). Freilich ist die Annahme, daß die Frau dann als orgastische Frau gemalt würde, nach dieser Intention des Malers nicht gerade überzeugend. Hammer-Tugendhats Erklärung: »Im Bild konkretisiert sich offensichtlich Unbewußtes und reale Lebenserfahrung, die nicht mit dem Bewußtsein des Malers übereinstimmen« (S. 158) - Segantini hat also nicht gewußt, was er malte, erst die Kunsthistorikerin hat es erkannt. Auf ihre Art ist Hammer-Tugendhats Analyse ebenso phantasievoll wie die ihrer Vorgänger.

Zusammenfassung

Die Aufsätze dieser kumulativen Habilitionsschrift betreffen bekannte und weniger bekannte Werke. Besonders bei den bekannten Werken, aber auch bei den Ausführungen über die Luxuria, sind viele der Einzelbeobachtungen schon früher in der Literatur zu finden gewesen. Das Interessante und Diskussionswürdige an dieser Sammlung sind daher die interpretatorischen Schwerpunkte, auch sie gewiß nichts ganz Neues, aber jedenfalls die Beschäftigung wert. Diese Thesen rund um die Herausbildung einer spezifisch auf den weiblichen Körper bezogenen Darstellung von Nacktheit und Lust, die Bedeutung des männlichen Blicks in der Ikonographie, aber auch in der Entstehung und Rezeption von Kunst, sind in der Tendenz oft richtig, in ihrer bei Hammer-Tugendhat verallgemeinerten Form aber zumeist überzogen - zu den meisten Thesen lassen sich leicht Gegenbeispiele finden, und nicht nur entlegene und irrelevante, sondern auch Werke wichtiger Meister. Mehr Differenzierung hätte diesen Aufsätzen gut getan.

Grob vereinfachend fällt auch die Charakterisierung des geistesgeschichtlichen Hintergrunds besonders im kirchengeschichtlichen Bereich aus. Ohnehin wirkt es nie überzeugend, wenn stets »die Kirche« nach ihren inhaltlichen Positionen charakterisiert wird, ohne daß klar wird, welche Teile der katholischen Kirche gemeint sind. Gerade in einer Analyse, die Veränderungen in der Kunst mit Blick auf geistesgeschichtliche Prozesse erklären soll, sind solche Vereinfachungen irreführend. Positiv ist hingegen hervorzuheben, daß Hammer-Tugendhat künstlerische Veränderungen nicht einfach als Abklatsch geistesgeschichtlicher Prozesse auffaßt, sondern die verhältnismäßige Autonomie, unter der Künstler arbeiten konnten, betont.


Anmerkung

1. Es handelt sich um folgende Arbeiten: a) Venus und Luxuria. Zum Verhältnis von Kunst und Ideologie im Hochmittelalter, in: Ilsebill Barta u. a. (Hg.), Frauen-Bilder-Männer-Mythen, Berlin 1987, 13-34; b) Jan van Eyck - Autonomisierung des Aktbildes und Geschlechterdifferenz, in: Detlef Hoffmann (Hg.), Der nackte Mensch, Marburg/L. 1989, 80-101; c) Erotik und Inquisition. Zum »Garten der Lüste« von Hieronymus Bosch, in: Renate Berger/Daniela Hammer-Tugendhat (Hg.), Der Garten der Lüste. Zur Deutung des Erotischen und Sexuellen bei Künstlern und ihren Interpreten, Köln 1985, 10-47. d) Erotik und Geschlechterdifferenz. Aspekte zur Aktmalerei Tizians, 36 S., 31 Tafeln; e) Zur Ambivalenz patriarchaler Geschlechterideologie in der Kunst des späten 19. Jahrhunderts. »Die bösen Mütter« von Giovanni Segantini, in: Edith Saurer/Heide Dienst (Hg.), »Das Weib existiert nicht für sich«. Geschlechterbeziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft, Wien 1990, 148-161.


 

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letzte Änderung: 30.10.2015
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