Frühling 2006
Habilitation Martin Moll
Von Michael John
Nationalitätenkonflikt in der Steiermark vor dem und im Ersten Weltkrieg Historicum | Habilitationen

Die vorliegende Habilitationsschrift wurde bereits im Jahr 2002 eingereicht. Die Arbeit ist von ungewöhnlichem Umfang, sie beinhaltet mehr als 750 Seiten, womit erklärt werden kann, warum die Besprechung dieser Habilitation erst so spät erfolgte. Mittlerweile liegt das dickleibige Werk auch in gedruckter Form vor.1 Moll hat sich in seiner Habilitationsschrift eines Nationalitätenkonflikts angenommen. Ungewöhnlich ehrlich deklariert der Autor bereits auf Seite 1, daß nicht das Thema an sich am Anfang seiner Arbeit stand, sondern ein Quellenfund: »Auch im Leben des Historikers führt mitunter der Zufall Regie. Bei Recherchen für (ein) Projekt […] entdeckte ich im Steiermärkischen Landesarchiv zufällig von der Forschung noch nie genutzte Akten.« In den Einführungslehrveranstaltungen des Faches Geschichte hört man zwar, daß man auf diese Weise nicht vorgehen solle. Erkenntnisleitende Interessen gelte es zuerst zu formulieren und so weiter, in der Realität wird aber oft, auch unter akademischen Profis, anders agiert. Moll ging dem Quellenfund nach – es handelte sich dabei um ein dickes Aktenkonvolut hinsichtlich der Verhaftung katholischer Geistlicher in der Untersteiermark im Jahre 1914 – und wurde immer weiter fündig:
Martin Moll: Kein Burgfrieden. Studien zum deutsch-slowenischen Nationalitätenkonflikt vor dem und im Ersten Weltkrieg.
Der Autor stellt den Quellenfund auch in den Mittelpunkt seiner konzeptuellen Überlegungen. Im Herzogtum Steiermark, dem Kronland der multiethnischen Habsburgermonarchie, waren vor 1918 in erster Linie zwei Nationalitäten vertreten, die deutschsprachigen Steirer und die Slowenen, wobei letztere rund ein Drittel der Landesbewohner stellten. Zwischen den beiden Gruppen hatte es seit Jahrzehnten heftige Konflikte gegeben, die sich um den slowenischen Anspruch auf Verwirklichung der Gleichberechtigung drehten. Mit der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gerieten die nicht-deutsche Nationen in Österreich-Ungarn unter starken Druck. In erster Linie betraf dies die südslawischen Völker des Reiches, »Serbophilie« hieß das Schlagwort der Anfeindungen nach dem tödlichen Anschlag. Wie aus dem Quellenfund Molls hervorgeht, war im Sommer 1914 die slowenische Bevölkerung, insbesondere slowenische Geistliche, mit einer Denunziationsflut konfrontiert. Moll hält im Einleitungskapitel zu dem aufgefundenen Aktenkonvolut fest: »Es war ein Aha-Erlebnis. Ich erkannte, dass es sich um ein Massenphänomen handelte, von dem nur die Spitze des Eisbergs aus dem Wasser ragte: Die Geistlichen, die lediglich einen kleinen Prozentsatz aller in den ersten Kriegsmonaten festgenommenen Steirer und Steirerinnen bildeten. Von diesem Augenblick an ließ mich die Thematik nicht mehr los. Ich begann zu recherchieren und stellte fest, dass sich in der landesgeschichtlichen Literatur so gut wie keine Erwähnung dieser nicht gerade alltäglichen Ereignisse findet, die, nimmt man die Zahl der Betroffenen als Maßstab, den Februar 1934 weit in den Schatten stellen.« (1) Die Festgenommenen wurden der heimlichen oder gar offenen Kollaboration mit dem serbischen Kriegsgegner beschuldigt, hunderte Personen wurden insgesamt verhaftet. Moll hat umfangreiches Material hinsichtlich der Kriegsjahre 1914 bis 1918 vorgefunden, in erster Linie konzentrierten sich die Vorfälle auf die mehrheitlich slowenisch besiedelte Untersteiermark.
Das Aktenmaterial legte für den Autor den Schluß nahe, daß es im Kontext der genannten Aktionen nicht nur um kriegsbedingte Maßnahmen ging. Jene Personen, die die Verfolgung der slowenischen Aktivisten betrieben, hielten fest, daß es sich um die Bereinigung alter Konflikte, um die Eliminierung lange bekannter Staatsfeinde handle (2). Die auch im Rahmen der Militärgerichtsbarkeit durchgeführten Verfolgungen stellten massives Unrecht dar, basierten auf Verleumdungen, viele Verhaftungen erfolgten ungerechtfertigt, jeder fünfte Verhaftete und bei den Geistlichen lediglich 2,6 Prozent der Verhafteten wurden tatsächlich verurteilt (686). Im Jahre 1914 wurden in der Steiermark insgesamt im genannten Zusammenhang 951 Personen verhaftet, davon 504 in den untersteirischen Bezirken Marburg, Cilli und Pettau. Bei den 216 Verurteilungen reichte die Spannweite von einem Tag, ja wenigen Stunden, bis zu mehr als einem Jahr. Den »Rekord« hielt dabei laut Moll der zwanzigjährige Franz Sever aus dem Bezirk Pettau. Er war am 30. August 1914 verhaftet worden, nachdem er die Serben öffentlich gepriesen haben soll. Er wurde zu einer fünfzehnmonatigen Kerkerstrafe verurteilt, die er auch absitzen mußte (498).
Hinter der Kampagne standen im wesentlichen deutschnationale Verhetzungsstrategien, wie das Zentralorgan der Sozialdemokratie der Steiermark ironisch vermerkte, »das deutschnationale Bierherz in Wut und Haß überschäumen(d)« (zit. nach Moll, 660). Der Autor entschloß sich angesichts der offenbar nicht nur anlaßbezogenen Hetze, den Untersuchungszeitraum auf die Periode 1900 bis 1918 auszudehnen. Im Zuge der Auswertung eines breiten Quellenmaterials versuchte der Autor die Nationalitätenkonflikte zwischen den beiden großen Bewohnergruppen der Steiermark, den Deutsch-Steirern und den Slowenen, ab den späten neunziger Jahren sowie die Eskalation dieser Konflikte bei Ausbruch des Weltkrieges und während dessen weiteren Verlaufs zu analysieren. Nach Moll handelte es sich bei den Angriffen 1914 bis 1918 um eine wesentliche Vorbedingung des inneren Zerfalls der Monarchie im Herbst des letzten Kriegsjahres und der Teilung der Steiermark. Moll konnte in seiner Arbeit auf deutschsprachiges und slowenisches Material zurückgreifen.

Zu Struktur, Aufbau und Methode
Der Autor gliederte seine Arbeit in fünfzehn Kapitel, das Einteilungsprinzip ist sowohl chronologisch als auch aspektorientiert, woraus sich im Falle dieser Arbeit einige Überschneidungen ergeben. Am Anfang steht ein Kapitel zu Themenstellung, Forschungsstand und Quellenlage, gefolgt von einem inhaltlichen Überblicksartikel zur Steiermark vor 1918, in dem die demographischen Befunde diskutiert werden, die Frage der Verwaltungsgrenzen und das Verhalten der ethnischen und politischen Lager. In diesem Zusammenhang untersucht Moll auch die Wahlergebnisse und die Frage der politisch-ethnischen Vormachtstellung. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung hatten in den Volkszählungen als Umgangssprache Deutsch angegeben, die Untersteiermark (slowenisch Spodnja S4tajerska) zwischen der unteren Mur und der oberen Save war jedoch mit Ausnahme der Städte Marburg/Maribor, Cilli/Celje und Pettau/Ptuj – in der deutschnationalen Diktion der Zeit als »deutsches Festungsdreieck« bezeichnet – ganz überwiegend von Slowenen besiedelt. Die deutschsprachigen Steirer hatten im Kronland Steiermark eindeutig die politische und kulturelle Hegemonie inne, im Laufe der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts nahmen die ethno-politischen Auseinandersetzungen im gesamten Kronland jedoch an Schärfe zu, und genau dies ist der Inhalt der beiden Kapitel Formierung des steirischen Deutschnationalismus und Der Kampf der Slowenen um Gleichberechtigung, die der Autor aneinander gereiht hat. Über die slowenischen Bemühungen um Emanzipation, über die Ausprägungen des slowenischen Nationalismus, panslawische Politik et cetera erfährt man allerdings deutlich weniger als über den Deutschnationalismus. Im Zusammenhang der Nationalitätenauseinandersetzungen in der Steiermark, wobei es auf slowenischer Seite auch eine panslawische beziehungsweise südslawische Ausrichtung gab, die den Kontext der Habsburgermonarchie verließ, kam den Ereignissen auf dem Balkan eine große Bedeutung zu, also wurden in weiterer Folge Die Balkanwirren seit 1908 und die Steiermark als auch Sarajewo und die Folgen thematisch abgehandelt. Daran schließt ein mehr als 300 Seiten umfassender Block mehrerer Kapitel (insgesamt sieben), die die Verfolgungen slowenischer Opponenten oder vermeintlicher Opponenten zum Inhalt haben. Schließlich folgen zwei weitere Kapitel zur Thematik des Ersten Weltkriegs, in den weiteren Jahren nach 1914 (Das Nachbeben und Die Haltung der Slowenen im Krieg), dann eine Zusammenfassung als Schlußkapitel, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Abkürzungsverzeichnis.
Methodisch war bei der Arbeit das Aktenstudium in den Mittelpunkt gerückt worden, der Autor untersuchte unzählige Archivalien, wertet diese hinsichtlich der konkreten Verfolgungen im Jahre 1914 auch statistisch aus. Statistik und Tabellen spielten auch eine Rolle im Zuge der Darstellung der ethnisch-sprachlich-demographischen Gegebenheiten im Kronland Steiermark. Im Mittelpunkt stand allerdings, wie gesagt, die Untersuchung von Aktenbeständen und der mit den Ereignissen verbundenen Diskurse, Moll erhebt dabei nicht den Anspruch, »das Denken und Handeln ›der‹ deutsch- bzw. slowenischsprachigen Bevölkerung der Steiermark erschöpfend rekonstruieren zu können.« Im Umgang mit seinen Quellen solle sich der Historiker, so Moll, »bewusst sein, dass er nur Stückwerk in Händen hält: Dort, wo Außergewöhnliches geschah, wo gestritten und Beschwerde eingereicht wurde, wo der Machtapparat auf den Bürger zugriff – überall dort entstanden schriftliche Quellen. Das friedliche Nebeneinander, das es zweifellos auch gab, wurde als nicht der schriftlichen Fixierung für würdig befunden.« (27) Moll zielt in seinem Ansatz in weiterer Folge nicht darauf ab, zu versuchen, historische Realitäten zu rekonstruieren (»objektive« Realitäten), er konzentriert sich von vornherein auf die Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit durch die Zeitgenossen.
Moll orientierte sich an der bereits existierenden Weltkrieg I-Forschung und übernimmt hinsichtlich der Methodik ein Postulat des Historikers Oswald Überegger, der detaillierte Arbeiten zu Tirol verfaßt hat: »Nur eine international ausgerichtete, theoretisch wie methodisch reflexive Regionalgeschichte, die es vermag, nationale Strukturen, raumspezifische Besonderheiten und anthropologische Aspekte synthetisch in die Darstellung mit einzubauen, wird den künftigen Forschungsdesideraten einer nicht-konventionellen, wissenschaftlichen Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges entsprechen können.« Moll wählte also einen multiperspektivischen Zugang, der Rechts-, Militär-, Sozial- und politische Geschichte sowie Alltags- und Mentalitätsgeschichte vereinigt (15). Es komme dabei nur die Kombination verschiedener Zugänge in Frage, weil nur so »eine potentielle Chance zur Verknüpfung von Struktur und Handeln« eröffnet werde. Daraus ergebe sich das Postulat einer breiten Streuung der Quellen, ein Postulat, das Moll durchgängig einzuhalten versucht.
Die zentrale Quelle der vorliegenden Arbeit stellen die im Steiermärkischen Landesarchiv aufbewahrten Bestände des Statthalterei-Präsidiums dar. Dies liegt zum einen am Umfang und der weitgehenden Geschlossenheit dieses Bestandes, zum anderen an der Funktion der Statthalterei, die als Aufsichtsstelle für alle im Kronland bestehenden Behörden sowie als Schnittstelle zwischen dem Land und dem Gesamtstaat fungierte. Diese Akten beinhalten daher nicht allein ihre eigenen Dokumente beziehungsweise jene ihrer Unterbehörden, sondern Korrespondenz mit sämtlichen im Land präsenten staatlichen Einrichtungen. An zweiter Stelle des von Moll verwendeten Aktenfundus stehen Gerichtsakten, das sind Akten der zivilen Strafgerichte beziehungsweise der Militärgerichte, sodann folgen die Akten der österreichischen Zentralbehörden, konkret des Ministerratspräsidiums sowie des Innen- und des Kultusministeriums. Moll folgte in seiner Arbeit deklarierterweise häufig den Spuren von Gerald Stourzh, in dem Sinn, daß er sich nachhaltig vieler Quellen juridischen Inhalts annahm. Das Nationalitätenproblem lasse sich sehr gut anhand diverser Rechtsmaterien untersuchen. Um gerichtliche Akten zu ergänzen und Einschätzungen der gesellschaftlichen Stimmung zu geben, wurde auf Berichte steirischer Tageszeitungen zurückgegriffen. Im Kontext der Verfolgungen während des Ersten Weltkriegs wertete Moll auch Quellen der Diözesanarchive ebenso wie Akten der Gendarmerie aus.
Die Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Slowenen waren nach der Wiedereröffnung der Reichsratssessionen Ende Mai 1917 Gegenstand parlamentarischer Anfragen und Interpellationen seitens slowenischer Abgeordneter, die in den gedruckten Sitzungsprotokollen des Hauses der Abgeordneten sowie in den Anhang- und Beilagenbänden enthalten sind. Im Herbst 1917 wurden auf Anordnung des Kaisers zwei Untersuchungskommissionen eingesetzt, welche die Verhaftungen von 1914 überprüfen und der Regierung Material zur Beantwortung der Anfragen an die Hand geben sollten. Moll konnte auch dieses Material verwenden, es ist in gedruckter Form zugänglich: Die Kommissionen legten im Frühjahr 1918 zwei lange Abschlußberichte vor. Die Berichte wurden zusammen mit weiteren Schriften vor einiger Zeit in deutscher Sprache herausgegeben.

Thesen
Der Autor hat eine sehr quellenreiche Arbeit verfaßt, die aber auch den Bereich der Thesenbildung nicht vernachlässigt. Im Gegenteil – der Leser, die Leserin sind mit einer Fülle von Hypothesen und Interpretationen konfrontiert, die Moll nicht nur im Kontext breit angelegter Fragestellungen, sondern auch im Zusammenhang mit Fallbeispielen angestellt hat. Man findet in der Arbeit Molls Dutzende kleinere oder breiter angelegte Thesen. Um ein Beispiel zu geben, seien hier etwa die Ausführungen zu den Anti-Wien-Tendenzen angeführt, die in der Steiermark sehr deutlich ausgerichtet waren, gegen die Zentralbehörden, teilweise sogar gegen das Kaiserhaus – bis dato wurde ein derartiger Regionalismus erst der Zwischenkriegszeit zugeordnet. Moll ist durchaus zuzustimmen, daß die Anti-Wien-Tendenzen von deutsch-steirischer Seite ein wesentliches Element darstellen, um die Ereignisse 1900 bis 1918 richtig deuten zu können. Ein immer aggressiver formulierter Deutschnationalismus konnte nur auf diese Weise bis 1918 teilweise zum Mainstream werden.
Nach Moll war in der Steiermark das subjektive Empfinden einer Randlage im größeren Kontext des deutschen Siedlungsgebietes in Europa wirksam. In Graz verstand man sich angesichts der Siedlungsstruktur in der Untersteiermark als »Außenposten des Deutschtums«, man verstand die Stadt als Bollwerk gegen die slawische Welt. Das Spezifische des Grazer Deutschnationalismus war, folgt man Moll, »gerade nicht ein Radikalismus, der sich aus der realen Erfahrung einer nationalen Gemengelage speiste, wie dies etwa in den Städten des (reichs)deutschen Ostens, insbesondere in Westpreußen und der Provinz Posen […] der Fall war. In Graz gab es keine nennenswerte slowenische oder sonstige Minderheit und auch auf Landesebene war angesichts der Mehrheitsverhältnisse und der dominierenden wirtschaftlichen Position der Deutschen deren Vorrangstellung nicht ernsthaft in Frage gestellt […] Erklärungsbedürftig bleibt, warum sich gerade die […] Murmetropole in die Rolle des Bollwerks hineinsteigerte.« (84) Die Erhebung der Umgangssprache im Jahre 1900 hat tatsächlich ergeben, daß 121662 Personen mit deutscher Umgangssprache angegeben wurden, 1430 sprachen Slowenisch und 581 eine sonstige Sprache. Sieht man sich demgegenüber die Heimatberechtigungsstatik an, so scheinen hier mehr als 38000 (!) Personen auf, die aus der (mehrheitlich slowenischsprachigen) Untersteiermark, aus Ungarn inklusive Kroatien, Böhmen, Mähren, Krain, Görz, Istrien, Dalmatien heimatberechtigt waren.2 Das Ergebnis der Volkzählungen ist eben bereits als Teil der Machtverhältnisse in den einzelnen Landesteilen zu interpretieren, es ist ein Resultat der Nationalitätenauseinandersetzungen. Den politischen und gesellschaftlichen Eliten in Graz war die Tatsache der Migration von rund 40000 Menschen aus mehrheitlich nicht-deutschsprachigen Regionen selbstverständlich bekannt. Nicht nur durch diesen Faktor, aber unzweifelhaft auch dadurch wurde Graz zu einer Stadt, die doch auf einer anderen Ebene anzusiedeln ist als etwa die Städte Linz, Salzburg oder Krems, die tatsächlich als ethnisch weitgehend homogen anzusprechen sind.
Moll hat also viele hypothesenartige Formulierungen in seiner Arbeit angebracht, manche in Kurzform und eher nebenbei formuliert, als Beispiel sei etwa die folgende ohne Beleg versehene Bemerkung des Autors genannt: »Typisch für die Grüne Mark war jedenfalls nicht die nur punktuell praktizierte Umgarnung der Slowenen, wie sie in Kärnten unter dem Slogan ›Wir sind alle Kärntner‹ betrieben wurde, sondern die strenge Separierung aller Lebensbereiche in eine deutsche und eine slowenische Sphäre. Das Motto lautete: ›Jeder zu den Seinen!‹ Schüchterne Appelle an das gemeinsame Landesbewusstsein hatten keine Chance, Gehör zu finden.« (722) Zum einen scheint die Existenz der S4tajerc-Bewegung, mit der sich Moll jedoch sehr nachhaltig auseinandergesetzt hat, dem raschen und eindeutigen Befund doch etwas zu widersprechen, zum anderen stellt Moll keinen fundierten und systematischen Vergleich der beiden Kronländer an.
Es ist an dieser Stelle nicht möglich, eine Reihe weiterer Hypothesen anzudiskutieren. Die zentrale These Molls sei hier jedoch etwas ausführlicher dargestellt: Laut Moll waren die Ereignisse des Sommers 1914, waren die Verfolgungsmaßnahmen und Denunziationen gegenüber slowenischen Mitbürgern für die weitere Geschichte der Steiermark beziehungsweise der Untersteiermark von entscheidender Bedeutung, die Jahre 1900 bis 1914 werden als »Vorgeschichte« angesehen. Die steirischen Slowenen seien damals in doppelter Weise zum Opfer geworden: »Als Betroffene einer einzigartigen Verfolgungswelle und als von einer manipulierten öffentlichen Meinung Irregeleitete, die sich vielfach im guten Glauben an harten Maßnahmen gegen ihre Konationalen beteiligten. Die bald folgende Aufdeckung dieser Irreführung trug im Sinne einer Gegenbewegung zu(r) Geschlossenheit unter den Slowenen bei […] Die Verarbeitung jener Erfahrungen, welche die Slowenen mit der steirischen Spielart des ›Burgfriedens‹ gemacht hatten3, wird künftighin bei der Beurteilung ihrer Abwendung von der Monarchie und damit bei der Bewertung des Verlustes der Untersteiermark 1919 stärker als bisher zu berücksichtigen sein. Im Ergebnis war das Auseinanderdriften der beiden Volksgruppen […], die Herausbildung eines von Feindschaft und Hass geprägten Klimas hausgemacht. Bei voller Würdigung der Vorgeschichte […] muss man – ob mit Bedauern oder nicht – konstatieren: Die 1919 gezogene Grenze war eine ›made in Styria‹.« (602)

Kritische Anmerkungen
Martin Moll hat eine beeindruckende Arbeit vorgelegt, er folgte in dem Werk seinen konzeptionellen Überlegungen, den formulierten Postulaten, die Quellenkenntnis des Autors ist mehr als bestechend. Moll hat mit seinem Manuskript enorme Sachkenntnis bewiesen und sich jahrelang mit der Problematik auseinandergesetzt. Daher möchte ich mögliche Einwände auch betont vorsichtig formulieren; es kann sein, daß ich damit auch wirklich falsch liege.
Die Habilitationsschrift Molls ist insgesamt sehr umfangreich geraten, es stellt sich aber die Frage, ob die Arbeit nicht dadurch gewonnen hätte, indem manche Bereiche stärker, andere weniger ausführlich akzentuiert worden wären. Kapitel 11 und Kapitel 12 beispielsweise, beide betreffend die Verfolgungen slowenischer Aktivisten während des Ersten Weltkriegs sind dermaßen detailreich ausgefallen, daß dies – mit Verlaub – doch geradezu an »Faktenhuberei« grenzt. Die Fälle Knaflic4, Brumen und Weixl werden schon sehr, sehr ausführlich dargestellt. Demgegenüber ist der wichtige Bereich »Identität« in der Arbeit doch sehr schwach ausgeleuchtet worden. Gewiß, »Identität« oder »Assimilation« im Kontext der Habsburgermonarchie ist ein Thema, das bereits dutzendfach behandelt wurde. Dennoch stellt sich das Thema auch im Kontext der Steiermark beziehungsweise Untersteiermark. Moll ist sich der Problematik bewußt, wenn er etwa besonders apostrophiert, daß von »der« deutschen Bevölkerung in der Steiermark die Rede ist. »Die« deutsche Bevölkerung als monolithischer Block existierte natürlich nicht, ebenso wenig wie »die« slowenische Bevölkerung. Mehr noch, ein Vergleich der Volkszählungsergebnisse auf dem Gebiet der Untersteiermark von 1910 und 1921 unter unterschiedlichen gesamtstaatlichen Bedingungen zeigt, daß ein erheblicher Teil der Bevölkerung doppelsprachig gewesen sein muß oder zumindest über jeweils erhebliche sprachliche Kenntnisse verfügt haben muß. Auch das ist nichts Neues, ebenso wie das Faktum, daß neben dem zunehmenden Nationalismus auch eine weitere Komponente, jene der situativen Identität, existierte, das Phänomen der »in between people«, des »side switching«, wie Pieter Judson, der Mitherausgeber des Bandes Constructing Nationalities in East Central Europe formulierte. Jerry King sprach in seiner Studie über die Einwohner von Budweis von einer »amphibischen« (amphibious) Identität.
Dieser Aspekt hätte stärker in die Arbeit integriert werden sollen, ebenso wie die Thematik »Gender«. Pieter Judson hat auch in diesem Zusammenhang, in seinem bereits etwas älteren Aufsatz über »Deutschnationale Politik und Geschlecht in Österreich 1880–1900« gezeigt, in welcher Form man sich der Thematik annähern kann, und er führte auch Beispiele aus der Steiermark an. Moll hat diesen Aspekt im wesentlich außen vor gelassen, ihn nur ab zu einfließen lassen – etwa wenn er die Abschaffung des Duells als Erklärungsfaktor der unwahrscheinlich verbissenen juridischen Auseinandersetzungen zwischen Politikern unterschiedlicher ethnischer beziehungsweise politischer Lager interpretiert. Der Aspekt wurde in der Arbeit nicht hinreichend berücksichtigt, der interessante Zusammenhang mit dem Duell nicht weiter verfolgt, der männliche Ehrbegriff nicht weiter hinterfragt.
Sieht man sich auf einer chronologischen Schiene die Schwerpunktsetzung in der vorliegenden Arbeit genauer an, so wird deutlich, daß das Hauptgewicht deutlich auf dem Jahr 1914 liegt. Das Jahr 1918 wird demgegenüber schwach abgedeckt. Zweifach formulierte Moll in Thesenform, daß man mit der »Vorgeschichte« und den Verfolgungen von 1914 im wesentlichen die Grenzziehung quer durch die Steiermark von 1919 erklären könne. Die endgültigen Grenzen wurden erst 1920 – mit der Räumung von Radkersburg im Juli durch SHS-Truppen – hergestellt, ist dem hinzuzufügen. Müßte man nicht zumindest die Ereignisse von 1918 und 1919 ein wenig genauer ansehen, um die These aufzustellen, die Teilung der Steiermark sei ausschließlich »made in Styria«? Der letzte Satz von Molls Habilitationsschrift klingt sehr griffig, ist er deswegen zutreffend? Mischt sich da kein bißchen »made in Paris beziehungsweise St. Germain«, kein »made in Ljubljana« oder »made in Belgrade« hinzu? Kann man diese These, die sich ja konkret auf die Grenzziehung 1919 bezieht, überhaupt aufstellen, wenn man die Jahre 1918 kaum und 1919 nicht in Betracht zieht?
Der aggressive steirische Deutschnationalismus, die Slawenfeindlichkeit des Vereins »Südmark«, den schon Adolf Hitler in Mein Kampf positiv erwähnte und der seit 1889 in verhetzender Weise agierte, all dies spielte gewiß eine Rolle. Massiven Deutschnationalismus fand man aber auch in Kärnten vor, warum verlief die Geschichte in Südkärnten anders als in der Untersteiermark? In Südkärnten wurde eine Volksabstimmung abgehalten, bei der sich auch die nicht rein deutschsprachige Bevölkerung für eine staatliche Anbindung an Österreich aussprach. In der Untersteiermark, etwa im Raum Maribor/Marburg wurde etwa keine Volksabstimmung abgehalten, ebenso wenig in Ptuj/Pettau oder Cilli/Celje. Wie eine Bevölkerung mit »amphibischer« Beschaffenheit entscheidet, wie sie handelt, kann nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden. Daß in Maribor/Marburg Selbstbestimmung keine Rolle spielte, war in erster Linie wohl nicht »made in Styria« – oder wenn doch, so in anderer Form, als dies Martin Moll im Sinn hatte. Der Major der k. k. Armee Rudolf Maister, der bis Oktober 1918 loyal zur Habsburgermonarchie stand, besetzte Marburg/Maribor sowie die gesamte Untersteiermark für den im Entstehen begriffenen SHS-Staat im November 1918. Als am 27. Jänner 1919 eine US-Delegation unter Colonel Sherman Miles in die Stadt an der Drau reiste, um sich ein Bild von der ethnischen Situation zu machen, ließ Maister seine (rein slowenischen?) Soldaten in eine Menge von rund 10000 Demonstranten schießen, die sich versammelt hatten, um die US-Delegation darauf aufmerksam zu machen, daß sie nicht Teil des SHS-Staates (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) werden wollten. Mit Schüssen löst man eine Demonstration auf, Colonel Sherman bekam diese Willenskundgebung nicht zu sehen, letztlich zählte man dreizehn tote und sechzig verletzte Demonstranten. Maister ließ auch Radkersburg, Spielfeld und Mureck besetzen. Die demokratische Republik Deutschösterreich reklamierte Marburg als Teil der Steiermark für sich, der sozialdemokratische Kanzler ebenso wie das von Otto Bauer geführte Außenamt protestierten gegen die Schüsse in Marburg. Zusammen mit serbischen Verbänden besetzte Maister schließlich im Juni 1919 Klagenfurt. Maister ist eine interessante Figur, mit teilweise deutschsprachigem Familienhintergrund, k. k. Offizier, treu in den Diensten seiner Majestät während des Ersten Weltkriegs entwickelte er sich, unterstützt von Soldaten aus Ljubljana und aus Serbien zum slowenischen Nationalhelden – aber sind diese Vorgänge rund um die Grenzziehung wirklich ganz klar »made in Styria« (oder »Carinthia« ), wenn man so will? Eine gewagte These.

Anmerkungen
1. Martin Moll, Kein Burgfrieden. Der deutsch-slowenische Nationalitätenkonflikt in der Steiermark 1900–1918, Innsbruck/Wien (StudienVerlag) 2007.
2. Österreichische Statistik, Band 63, Band 2, Heft 2, Wien 1903, 59.
3. Hier: (informelles oder formelles) Stillhalteabkommen während des Ersten Weltkriegs.

 

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letzte Änderung: 19.06.2015
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