Frühling–Sommer 2010
Habilitation Gerald Steinacher
Von Michael Pammer
Nazis auf der Flucht Historicum | Habilitationen

»Das Buch«, so teilt der Autor sachlich in der Einleitung mit, »ist von Anfang bis Ende eine spannende Lektüre« (16):
Gerald Steinacher: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen. Innsbruck, Wien, Bozen (StudienVerlag) 2008, 380 S., Euro 29,90
Der Autor ist Archivar am Südtiroler Landesarchiv in Bozen. Mit der vorliegenden Arbeit hat er sich an der Universität Innsbruck für Neuere und Zeitgeschichte habilitiert.

Thema
Bekanntlich flüchtete nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Reihe von Personen, die an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt gewesen waren, aus Europa. Die bekanntesten unter ihnen sind Adolf Eichmann und Josef Mengele. Diese Flucht wurde durch die chaotischen Zustände der unmittelbaren Nachkriegszeit erleichtert, die es ermöglichten, mit falscher Identität zu reisen und die entstandenen verwaltungstechnischen Lücken zu nützen. Unterstützung erhielten flüchtige Verbrecher von ihresgleichen, aber auch von Personen aus dem Klerus der katholischen Kirche sowie einzelnen Regierungsstellen der alliierten Staaten; man leistete administrative Hilfe bei der Beschaffung von Reisedokumenten, gab Geld und vermittelte nützliche Kontakte.

Diese Unterstützung hatte unterschiedliche Ursachen. Zum einen gab es in der katholischen Kirche einzelne einflußreiche Persönlichkeiten, die dem Nationalsozialismus beziehungsweise dem Faschismus ganz und gar nicht ablehnend gegenüberstanden. Die bekanntesten unter ihnen waren der aus Österreich stammende Rektor des Collegio Teutonico di Santa Maria dell’Anima Alois Hudal und der Sekretär der kroatischen Nationalkirche in Rom Krunoslav Draganovic. Zum anderen verschoben sich in der Ost-West-Auseinandersetzung nach 1945 die Gewichte in der Weise, daß beide Seiten für ihre Zwecke auch Nationalsozialisten als Fachleute und Informationsträger nutzen wollten. Im Fall der beteiligten westlichen Regierungsstellen und der involvierten Kirchenvertreter wurden die Nationalsozialisten besonders auch als Antikommunisten wahrgenommen.

Grundsätzlich ist diese Geschichte bis hin zu den Verwicklungen der handelnden Personen seit langem bekannt. Sie war Thema in den zeitgenössischen Medien und vor Gericht ebenso wie in der historischen Forschung. Dennoch ist es ein legitimes Anliegen, den Vorgängen rund um die Flucht von Nationalsozialisten im einzelnen nachzugehen.

Im vorliegenden Fall ist diese Untersuchung allerdings nicht gelungen. Anstelle einer präzisen Analyse, einer klaren Trennung von verschwörerischer Fluchthilfe und sonstigen Vorgängen, wird bloß in etwas aufgeregtem Tonfall ein Sammelsurium von Anekdoten vorgetragen. Verbindendes Element ist der Umstand, daß das meiste (wenn auch nicht alles), was zur Sprache kommt, direkt oder indirekt mit der Migration von deutschsprachigen Personen nach Südamerika zu tun hat, wobei es nicht so wichtig ist, ob es sich bei den Migranten um Kriegsverbrecher handelt, um überzeugte Nationalsozialisten ohne eigene Beteiligung an Verbrechen, um konturlose Mitläufer oder um Personen, über die man nichts Genaues weiß (was anscheinend besonders verdächtig ist).

Ausmaß des Geschehens
Die Schwierigkeit des Autors, zwischen der Flucht von Verbrechern und sonstiger Migration zu unterscheiden, macht es von vornherein schwer, ein klares Bild vom Umfang des Geschehens zu gewinnen.[1] Im letzten der fünf Hauptteile des Bandes, in dem die Rolle Argentiniens als besonders wichtiges Zielland im Mittelpunkt steht, bekommt man erstmals Informationen dieser Art.

Die argentinische Regierung, so wird mitgeteilt, habe Pläne für die Einwanderung von 4 Millionen Europäern nach Argentinien geschmiedet und dafür eigene Dienststellen eingerichtet (251). Faktisch hatte Argentinien zwischen 1946 und 1957 bei einer Bevölkerung von knapp 16 Millionen dann einen Wanderungsgewinn von etwa 800000 Personen, davon drei Viertel aus Europa.[2] Aus dem Gebiet der BRD, Österreich und der Schweiz wanderten zwischen 1946 und 1957 knapp 1,4 Millionen Personen aus, darunter mehr als die Hälfte Displaced Persons; etwas mehr als ein Viertel der Gesamtzahl ging nach Südamerika.[3]

Steinacher legt nun die Einwanderungspolitik der argentinischen Regierung und des Direktors ihrer Einwanderungsbehörde Santiago Peralta so aus, als sei es vorrangiges Ziel gewesen, Nationalsozialisten ins Land zu holen. Über Peralta liest man: »Für die ›braunen Flüchtlinge‹ war seine Berufung zum Direktor der Einwanderungsbehörde geradezu ein Volltreffer: Denn Peralta legte die Richtlinien für die Einwanderungsbehörde zu ihren Gunsten fest.« (238) Nüchterner betrachtet, begünstigten die Richtlinien hellhäutige Europäer mit guter Ausbildung, wenn möglich katholischer Religion und am besten mit romanischer Muttersprache – nicht eben ein präziser Steckbrief für braune Flüchtlinge. Tatsächlich wanderten nach manchen Quellen in Argentinien zwischen 1946 und 1955 nur ungefähr 66000 Deutsche ein (237), nach anderen Quellen waren es noch weitaus weniger.[4] Jedenfalls bildeten die Deutschen eine kleine Minderheit unter den Argentinienwanderern, die überwältigende Mehrheit kam aus Italien oder Spanien. Die deutsche Emigration nach Südamerika lief zu großen Teilen über Italien ab, was einen banalen Grund hatte: Argentinien hatte keine Vertretung in Österreich und Deutschland, wohl aber in Italien.

Unter all diesen Migranten befand sich zwar eine gewisse Zahl von Kriegsverbrechern, aber der größte Teil war in diesem Sinn nicht belastet. Für Argentinien existieren vage Schätzungen, es seien 300 bis 800 höhergradige Nationalsozialisten eingewandert, darunter mindestens 180 Kriegsverbrecher aus verschiedenen europäischen Ländern (237). Für ein Verständnis der Vorgänge ist dies wichtig: Sowohl die Paßbehörden in Europa als auch die Einwanderungsbehörden in den südamerikanischen Ländern hatten es überwiegend mit Personen zu tun, gegen die nichts vorlag. Selbst unter den politisch dubiosen Figuren waren viele, die keine strafrechtliche Verfolgung zu befürchten hatten. Die wirklichen Verbrecher, die sehr wohl Verfolgung erwarten konnten, reisten in der Regel unter einer falschen Identität. Ein großer Teil der Vorgänge läßt sich daher schon dadurch erklären, daß es für Verbrecher nicht allzu schwer war, in der großen Menge harmloser Migranten unauffällig mitzuwandern.

Dazu kommen die Rahmenbedingungen, die eine effektive Kontrolle erschwerten. Viele europäische Migranten jener Jahre hatten tatsächlich keine Möglichkeit, zu Reisepässen ihrer Heimatländer zu kommen. Dies gilt für Displaced Persons ebenso wie für Volksdeutsche, also Personen insbesondere aus Ost- und Südosteuropa, die aus ihren Wohnsitzen vertrieben waren. Für diese Personen mußten Dokumente ersatzweise bereitgestellt werden, wobei die dafür erforderlichen Nachweise aufgrund der Umstände der Vertreibung oft schwer zu erbringen waren. Für Migranten aus Deutschland war es vor der Gründung der Bundesrepublik und dem Paßgesetz vom 4. März 1952 ebenfalls nicht leicht, zu Reisepässen zu kommen. Eine Reihe von Personen gab sich daher fälschlicherweise als Vertriebene aus, um so zu einem Ersatzdokument zu kommen, das für sie eigentlich nicht vorgesehen war. Es ist zwar unschön, wenn Menschen die Unwahrheit sagen, aber falsche Angaben vor einer Paßbehörde bedeuten noch lange nicht, daß man ein flüchtiger Kriegsverbrecher war.

Das heißt selbstverständlich nicht, daß es den eingangs erwähnten Mißbrauch und die in voller Absicht gewährte Fluchthilfe für Verbrecher nicht gegeben hätte. Es ist keine Frage, daß Unterstützung etwa in Form von Bescheinigungen kirchlicher Stellen, Unterbringung und Geld gewährt wurde. Ebenso fraglos profitierten davon neben vielen harmlosen Personen auch Verbrecher. Kirchenvertreter wie Hudal und Draganovic4 wußten in vielen Fällen genau, mit wem sie es zu tun hatten, in anderen Fällen konnten sie es vermuten. Vor sich selbst und teilweise nach außen rechtfertigten sie ihr Engagement auch damit, es handle sich um reuige Sünder, Hilfe für Flüchtlinge sei ein Gebot der Menschlichkeit, die Flüchtigen seien von Kommunisten verfolgt und so weiter. Dergleichen braucht man nicht besonders ernst zu nehmen – Fluchthelfer wie die beiden erwähnten handelten eben mit dem Vorsatz, nationalsozialistische und faschistische Verbrecher beim Entkommen zu unterstützen.

Anders sieht es mit den Paßbehörden aus. Um die Vorgänge verstehen zu können, muß man sich in die Rolle einer Behörde versetzen, die mit einer enormen Menge von migrationswilligen Personen konfrontiert war, denen oft die erforderlichen Dokumente abgingen und über die man auch sonst nicht viel wußte. Für diese Personen sollte es rasch Lösungen geben. Die plausibelste Annahme ist, daß man solche Lösungen im Wissen anstrebte, daß sie im Großteil der Fälle zu vertretbaren Ergebnissen führen würden. Daß in einem kleinen Teil der Fälle auch belastete Personen davon profitieren könnten, konnte man wohl annehmen, es war aber nicht der Zweck der Übung. Wenn man sich hingegen rückblickend nur mit Kriegsverbrechern befaßt, wird man zum Schluß kommen, daß vor allem Kriegsverbrecher wanderten, und wird diese Auffälligkeit damit erklären, daß alle befaßten Stellen die Absicht verfolgten, solche Täter entkommen zu lassen. Das vereinfacht zwar die Erklärung, ist aber wirklichkeitsfremd. Typisch für Steinachers Ansatz sind seine Ausführungen über das Rote Kreuz.

Rolle des Roten Kreuzes
So wie viele andere auch bediente sich eine Reihe flüchtiger Nationalsozialisten der Pässe, die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ausstellte. Der betreffende Abschnitt in Steinachers Buch trägt die Überschrift »Die Mitschuld des Internationalen Roten Kreuzes«, was bereits die Tendenz des Autors zur moralisierenden Darstellung kennzeichnet. Sachlich kann man die Rolle des Roten Kreuzes und die damit verknüpften Umstände in etwa so umreißen:
– Das IKRK stellte Pässe für Personen aus, die keine gültige Pässe hatten und sich auch keine beschaffen konnten.
– Die Pässe hatten eine begrenzte Gültigkeit und waren als einmalige Passierscheine für Fälle gedacht, in denen Ausreise und Einreise von den involvierten Ländern genehmigt waren.
– Die Pässe wurden dennoch in manchen Fällen weit über ihre Gültigkeitsdauer hinaus benutzt.
– Die Identitätsnachweise, auf deren Basis die Pässe ausgestellt wurden, waren unsicher und machten es Antragstellern leicht, unter falschem Namen und mit falschen persönlichen Daten zu reisen.
– Die IKRK-Dokumente wurden anscheinend oft gefälscht.

Im Ergebnis war es so, daß eine Reihe von Kriegsverbrechern mit echten oder gefälschten Rotkreuz-Pässen flüchteten, vorzugsweise nach Südamerika, und diese Pässe dort oft noch lange weiterverwendeten. Die Rolle des Roten Kreuzes dabei mit dem Ausdruck Mitschuld zu erledigen, trägt zum Verständnis allerdings nichts bei.

Wesentlich ist zunächst die Frage, wie es überhaupt zur Ausstellung von Rotkreuz-Pässen kam. Diese Pässe wurden deshalb ausgestellt, weil die International Refugee Organization (IRO), die, wie ihr Name sagt, für Flüchtlinge zuständig war, Flüchtlinge deutscher Herkunft nicht in ihren Aufgabenbereich einbezog. Bekanntlich gab es sehr viele solcher Flüchtlinge, nämlich Millionen deutschsprachige Personen aus Ost- und Südosteuropa, die im Sinn der IRO als Deutsche galten: »In den Augen der Siegermächte waren sie Täter – und nicht Opfer – des Zweiten Weltkriegs.« (73) Das Rote Kreuz nahm sich solcher Personen an, die selbstverständlich zum größten Teil nicht an Verbrechen beteiligt gewesen waren.

Freilich eröffnete sich damit für wirkliche Verbrecher die Möglichkeit, als vermeintlich harmlose Flüchtlinge deutscher Herkunft ebenfalls die Dienste des Roten Kreuzes in Anspruch zu nehmen. Hier wurden nun die Schwierigkeiten in der Feststellung der Identität offenbar, die sich unter den zeitbedingten Umständen ergaben. Es ist keine Frage, daß die Identitätsnachweise, die das Rote Kreuz verlangte, für jeden, der es darauf anlegte, unabhängig von ihrer Richtigkeit verhältnismäßig leicht zu erbringen waren. Praktisch genügte bis 1947 bereits die Zeugenaussage von zwei Personen als Bestätigung der gemachten Angaben, womit drei Personen einander nach Belieben Identitätsnachweise liefern konnten. Dieser Umstand war den Verantwortlichen des Roten Kreuzes ebenso wie außenstehenden Beobachtern bewußt, weshalb man sich um eine Änderung der Anforderungen bemühte. Ab 1947 mußten dann weitere Nachweise der Identität in Form von schriftlichen Dokumenten vorgelegt werden.

Für eine Einschätzung der alldem zugrundeliegenden Motive müssen freilich die äußeren Bedingungen berücksichtigt werden. Bei Steinacher kommen die Vorgänge so heraus, als wäre es gerade der Zweck der IKRK-Pässe gewesen, nationalsozialistischen Verbrechern das Entkommen zu ermöglichen. Tatsächlich ist im überwiegenden Teil der Fälle ein viel planloseres, von den zeitbedingten verwaltungstechnischen Schwierigkeiten, von Inkompetenz und Schlamperei und so weiter gekennzeichnetes Vorgehen anzunehmen. Es gab eben wirklich viele harmlose Flüchtlinge, um die sich die IRO nicht kümmerte, weil sie als Deutsche galten. Solche Flüchtlinge hatten auch wirklich oft Schwierigkeiten, ihre Identität nachzuweisen, weil sie keine Papiere mehr besaßen und aus ihren Wohnsitzen vertrieben waren. Die für die Ausstellung der Rotkreuz-Papiere geltenden Anforderungen waren von diesen Umständen geprägt. Regelungen, die Kriegsverbrecher zuverlässig daran gehindert hätten, sich falsche Rotkreuz-Pässe zu verschaffen, hätten wahrscheinlich auch die Ausstellung von Papieren für einen großen Teil der harmlosen Flüchtlinge verhindert.

Darüber hinaus muß betont werden, daß Personen, die unbedingt flüchten wollten, sich auch unter den erschwerten Bedingungen der späten vierziger Jahre falsche Papiere beschaffen konnten. So verfügte der ehemalige Linzer Gestapo-Chef Gerhard Bast unter anderem über eine 1939 ausgestellte falsche slowenische Geburtsurkunde und diverse weitere falsche Dokumente aus der Zeit nach 1945, was auch strengen Maßstäben genügte. Ähnliches konnten andere belastete Personen vorlegen. Es war aus Sicht des IKRK kein Grund erkennbar, warum man solchen harmlos auftretenden Antragstellern den Paß hätte verweigern sollen.

Die weiteren von Steinacher angeführten wirklichen oder vermeintlichen Mißbräuche im Zusammenhang mit den IKRK-Dokumenten sind entweder gar nicht als Mißbrauch anzusehen oder lagen nicht im Verantwortungsbereich des Roten Kreuzes. Beispielsweise führt der Autor über eine halbe Seite den Fall eines Mannes auf, der zweimal einen Antrag auf Ausstellung eines IKRK-Passes stellte. Der erste Paß wurde anscheinend Mitte 1946 ausgestellt, aber nie abgeholt, der zweite Paß wurde 1947 ausgestellt und dem Antragsteller übergeben. Das ist zwar tatsächlich eine »Mehrfachausstellung von IKRK-Reisetiteln« (84), aber offenkundig kein Mißbrauch, da nur eines der beiden Dokumente ausgefolgt wurde. In einem anderen Fall zitiert der Autor den Antrag eines gewissen Heinrich Bottcher: »Bottcher war angeblich in Magdeburg geboren und gab sich als Sudetendeutscher aus, um in den begehrten Status des ›Staatenlosen‹ zu gelangen. Nun liegt Magdeburg nicht im Sudetenland, doch das IKRK scherte sich offenbar wenig um die Korrektheit der Angaben.« (86) Man kann aber in Magdeburg geboren und dennoch Sudetendeutscher gewesen sein, nämlich dann, wenn man vor 1938 Bürger der Tschechoslowakei und Angehöriger der deutschen Minderheit in den sogenannten Sudetenländern war, wofür der Geburtsort unerheblich war. Selbstverständlich ist es möglich, daß der Antragsteller Bottcher in Wahrheit ein verkappter Kriegsverbrecher war, doch führt Steinacher dazu nichts aus.

Ohnehin außerhalb des Verantwortungsbereichs des Roten Kreuzes lagen die Fälschungen von Reisedokumenten, die Steinacher in einem Atemzug mit allen anderen Kritikpunkten nennt. Gewiß waren IKRK-Papiere offenbar leicht zu fälschen, wobei das Rote Kreuz in dieser Hinsicht auch dazulernte. Dennoch kann man es einer Paßbehörde nicht gut vorwerfen, wenn Verbrecher ihre Dokumente fälschen.

Schließlich war das Rote Kreuz nicht dafür verantwortlich, daß seine Pässe entgegen ihrem vorgesehenen Zweck mehr oder weniger unbefristet als Identitäts- und Reisedokumente verwendet wurden. Auch hier gilt, daß es nicht im Verantwortungsbereich einer Paßstelle liegt, wenn ihre Papiere über die Gültigkeitsdauer hinaus verwendet und von anderen Behörden akzeptiert werden (abgesehen davon ist dieser Punkt für die Flucht selbst unerheblich).

Alles in allem ist dieser Abschnitt also vom Bemühen des Autors geprägt, die Ausstellung von Pässen durch das IKRK als großangelegten planmäßigen Mißbrauch darzustellen. Das Ergebnis überzeugt nicht.

Verbrecher und andere
Die Arbeit befaßt sich dem Untertitel nach mit dem Fluchtweg von Kriegsverbrechern. Eine Reihe solcher Fälle wird auch wirklich besprochen. Dazu kommt aber noch eine beträchtliche Zahl von Personen, die bei ihrer Auswanderung nach Übersee zum Teil ebenfalls das Rote Kreuz oder auch die Hilfe kirchlicher Stellen in Anspruch nahmen, die man den vorliegenden Informationen nach aber nicht als flüchtige Kriegsverbrecher einstufen kann. Dazu gehören Personen,
– deren Akten dem Autor, ob berechtigt oder nicht, auffällig erscheinen, zu denen aber sonst nichts bekannt ist; oder
– die bei aktenmäßiger Nachprüfung von Standesdokumenten ihrer angeblichen Herkunftsorte nicht auffindbar sind und die demzufolge möglicherweise unter falschen Namen gereist sind; oder
– die zwar überzeugte Nationalsozialisten waren, aber keiner strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt waren und daher auch nicht zu »flüchten« hatten; oder
– die nach Übersee geflüchtet waren, weil sie Verfolgte des Nationalsozialismus waren.
Die unterschiedslose Einbeziehung all dieser Personen in die Untersuchung ist einer der Hauptmängel des Buchs.

Bekannte Nationalsozialisten waren etwa die Flieger Hans-Ulrich Rudel, Adolf Galland und Werner Baumbach; Rudel blieb jahrzehntelang nach dem Krieg eine prominente Figur im rechtsextremen Milieu. Im Zusammenhang mit diesen Personen ist zwar immer von »Flucht« die Rede, aber es ist unerfindlich, wovor sie »geflüchtet« wären. Jedenfalls flohen sie nicht vor einer Verfolgung wegen Kriegsverbrechen: Alle drei waren aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Ihre Identität war den alliierten und den deutschen Behörden wohlbekannt. Soweit es überhaupt Vorwürfe wegen Verstößen gegen das Kriegsrecht gegeben hatte, waren sie fallengelassen worden. Die drei gingen 1948 nach Argentinien, um dort als Militärberater zu arbeiten. Baumbach stellte seinen Paßantrag an das IKRK unter seinem richtigen, Rudel unter einem falschen Namen (Rudel sah von sich aus übrigens keine Notwendigkeit zu einem Namenswechsel, die Idee kam von der Südtiroler Gruppe, die ihm Papiere verschaffte). Baumbach kam dann in Argentinien bei einem Unfall ums Leben, die anderen beiden kamen bald wieder nach Deutschland, erwartungsgemäß ohne dort Schwierigkeiten zu bekommen.

Die Liste läßt sich mit bekannten und unbekannten Namen fortsetzen. Gustav Lantschner etwa, Skirennfahrer und Filmschauspieler, soll mit seinem Bruder (einem exponierten Nationalsozialisten, der tatsächlich befürchten mußte, strafrechtlich verfolgt zu werden) nach Argentinien »geflüchtet« sein (267–268). Tatsächlich hatte Gustav Lantschner keinen Grund zur »Flucht«, sondern allenfalls zur Auswanderung. Ein Bekannter Lantschners war der Wirt Cornelius Dellai, angeblich Nationalsozialist, über den es heißt : »Ab 1943 leitete er eine lokale Polizeieinheit, die unter anderem mit der Suche nach alliierten Piloten und Deserteuren betraut war.« (270) Welche Kriegsverbrechen Dellai dabei begangen hat, wird offengelassen. Dann zitiert Steinacher aus einer Hotel-Festschrift, die wiederum von Gerüchten berichtet, Dellai sei angeblich mehrmals von der italienischen Polizei kontrolliert worden. Das Ergebnis lautet: »Nach dem Krieg floh Dellai jedenfalls zusammen mit den Lantschners über Südtirol ins argentinische Bariloche.« (270) Der Lehrer Friedrich Hofer, der nach Steinacher ebenfalls »flüchtete«, »gehörte zwar nicht zum engsten Kreis der NS-Bewegung, seine weltanschauliche Haltung war aber klar« (275), mit anderen Worten, gegen den Mann lag nichts strafrechtlich Relevantes vor.

Dann gibt es die Fälle, über die wesentliche Informationen fehlen, etwa auch über den Grad ihrer Sympathie für den Nationalsozialismus. Solche Personen erregen anscheinend Verdacht. An dem Diplomingenieur Siegfried Büsch fiel Steinacher auf, daß er eine Herkunft aus Hermannstadt geltend machte, um zu einem Rotkreuz-Paß zu kommen, während seine Frau Grazerin und sein Sohn in der Steiermark geboren war: »Die Siebenbürger Herkunft der Familie Büsch war offenbar frei erfunden.« (291) Das ist durchaus möglich, obwohl die Verehelichung eines Mannes aus Hermannstadt mit einer Grazerin an sich nicht unzulässig wäre. An die spärlichen Informationen über Büsch schließt der nächste Satz mit den Worten an: »Andere Kriegsverbrecher bei der CAPRI …« (291). Worin Büschs eigene Kriegsverbrechen bestanden, bleibt unerwähnt. Über den im selben Absatz behandelten Franz Kienast erfährt man zwar verschiedene seine Überfahrt betreffende Einzelheiten, nichts aber darüber, warum er Erwähnung findet.

Ein besonderer Fall war jener von Fritz Mandl, eine schillernde Figur und ein bekannter Name in der österreichischen Industriegeschichte. Auch Mandl war nach Argentinien gegangen, aber schon früher. Die Informationen zu Mandl seien in voller Länge zitiert: »Der österreichische Waffenfabriksbesitzer Fritz Mandl stand [Ludwig] Freude an Einfluss nicht nach. Im ›Dritten Reich‹ hatte er gute Kontakte zu Hermann Göring und konnte dadurch seinen Einfluss und seine Monopolstellung weiter ausbauen. Mandl hatte schon seit 1938 enge Kontakte zu Argentinien, wo er Niederlassungen gründete. Nach dem Krieg heuerte der Großunternehmer deutsche Militärexperten und Wissenschaftler für seine Waffenfabriken in Argentinien an. Mandl lebte während des Krieges in Argentinien und avancierte ab 1946 zu einem Berater Peróns. Die CIA stufte ihn sogar als ›graue Eminenz‹ hinter Peróns Wirtschaftsplänen ein. Freude wäre demnach nichts anderes als der Frontmann von Mandl gewesen. [Fn.]« (252) Mit alldem, besonders auch mit der Beziehung zu Ludwig Freude, einem Unternehmer und Berater Peróns und bei Steinacher die »Schlüsselfigur im ›braunen Netzwerk‹«, wird Mandl mehr oder weniger ununterscheidbar in die Riege der nationalsozialistischen Kriegsverbrecher eingereiht.

In einem so geschwätzigen Buch, das im allgemeinen auch irrelevanteste biographische Details nicht unterschlägt, sofern sie nur dem Autor irgendwo untergekommen sind, hätten einige ergänzende Bemerkungen über Mandl den Rahmen nicht gesprengt. Zum Beispiel darüber, warum denn der Industrielle, Generaldirektor der Hirtenberger Patronenfabrik vor 1938 und nach 1955, während des Kriegs in Argentinien war: Sein Vater Alexander Mandl, vor ihm bereits Generaldirektor der Hirtenberger, war jüdisch (Fritz Mandl selbst war katholisch), weshalb das nationalsozialistische Regime beide verfolgte. Der Vater wurde nach dem deutschen Einmarsch gefangengenommen, der Sohn war bereits in die Schweiz entwichen. Mit Göring korrespondierte Fritz Mandl tatsächlich eine Zeitlang in industriellen Angelegenheiten, was aber kriegsbedingt keine Folgen hatte. Insbesondere hatte Mandl keine Monopolstellung in irgendeinem Bereich. Vor allem ging es bei seinen Kontakten mit der deutschen Regierung aber um die Freilassung seines Vaters und um die Abfindung für seine Vermögensverluste (Mandl hatte für den Fall der deutschen Okkupation vorgesorgt und konnte im Zug der Enteignung eine Teilabfindung erzwingen).

Mandl stand einer Reihe von autoritären und faschistischen Regimen (im besonderen auch Mussolini) sowie den österreichischen Heimwehren nahe und nutzte opportunistisch und ohne besondere Hemmungen seine Kontakte für seine industriellen Unternehmungen und auch für ungesetzliche Aktivitäten (am bekanntesten ist seine Beteiligung an der Hirtenberger Waffenaffäre 1933). Seine argentinischen Besitzungen wurden Mandl dann 1945 auf Betreiben der britischen und der amerikanischen Regierung entzogen, die keine unkontrollierte argentinische Waffenindustrie wünschten. Begleitet wurde die Kampagne von vielen Umtrieben im Hintergrund, darunter vielfachen falschen nachrichtendienstlichen Informationen, die zum Teil auf Irrtum beruhten, zum Teil wohl gezielt verbreitet wurden (bemerkenswert waren dabei auch die antisemitischen Untertöne).[5] Wie aus der zitierten Stelle ersichtlich, halten sich solche Informationen der CIA auch noch nach sechzig Jahren.

Abseits des Themas
Neben der unterschiedslos behandelten Flucht von und vor Nationalsozialisten und der gewöhnlichen Überseewanderung bespricht Steinacher noch eine Reihe von weiteren Fällen, die ihm im Zug seiner Arbeit untergekommen sind, aber mit dem Thema von Flucht und Fluchthilfe nichts zu tun haben.

Manches davon bezieht sich einfach auf Einzelheiten der Südtiroler Lokalgeschichte. À propos Meran, das als Durchgangsstation auf den Routen nach Übersee eine gewisse Rolle spielte, erinnert sich der Südtirol-Kenner: »Prominente Täter konnten also nach 1950 wieder auf ihre Schweizer Konten zugreifen, das war mit ein Grund für die Beliebtheit von Meran, das nur unweit der Schweizer Grenze liegt. Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, der größere Summen in der Schweiz angelegt hatte, konnte in Meran also beruhigt in die Zukunft sehen. [Fn.] Schacht lebte nach Kriegsende noch bis Anfang der 1960er Jahre in Meran. Von dort steuerte er seine Geschäfte und Kontakte, besonders zu seinem Schwiegersohn, dem SS-Offizier Otto Skorzeny.« (55–56) Schacht wohnte wirklich zeitweise in Meran. Daß der frühere Reichsbankpräsident die Kurstadt wegen seiner Schweizer Konten und seiner sinistren Geschäfte mit dem angeheirateten Neffen (es war die Nichte, nicht die Tochter) gewählt haben soll, ist freilich eine bemühte Dämonisierung der Szenerie – Schacht war für seine Geschäfte nicht auf den Weg zur nächstgelegenen Bankfiliale angewiesen und unterhielt überdies seine Konten wohl weniger bei den Volksbanken und Sparkassen des Engadin als bei Zürcher Banken. Mit der Flucht von Kriegsverbrechern hat all das ohnehin nichts zu tun, denn Schacht wurde nach der für ihn günstigen Beendigung seiner Verfahren weder strafrechtlich verfolgt, noch ging er überhaupt nach Übersee. Es handelt sich einfach um Name-dropping der überflüssigeren Sorte.

Meran ist auch sonst für Geschichten abseits des eigentlichen Themas gut, so über die Läufte der Familie Mengele: »Mengele vertraute seine Familie ehemaligen Südtiroler Fluchthelfern in Meran an. […] Im September 1962 übersiedelte Martha Mengele in die Parkstraße in Meran, ohne jemals behelligt zu werden.« (56) Warum Josef Mengele im Jahr 1962 seine Frau (er hatte neun Jahre nach seiner Flucht die Witwe seines 1949 verstorbenen Bruders geheiratet) für deren Übersiedlung nach Meran ehemaligen Fluchthelfern anvertrauen mußte, ist freilich nicht recht erfindlich, da man in den sechziger Jahren auf normale Weise reisen und eine Wohnung mieten konnte und Frau Mengele bereits geschäftsfähig war. Dann folgt eine längere Geschichte über die 1969 gegründete Firma Mengele & Steiner in Meran, einer Tochter der Günzburger Landmaschinenfabrik Mengele, mit Mutmaßungen, daß man sich bei der Gründung für eine (wiederum nur geargwöhnte) Fluchthilfe habe revanchieren wollen.

Zwischendurch wird – Name-dropping – eine dreiviertel Seite Reinhard Gehlen gewidmet, seit 1942 leitender Nachrichtenoffizier im Generalstab (201–202). Warum hier eine Kurzbiographie des ersten Chefs des Bundesnachrichtendiensts deponiert wird, ist gänzlich unklar, denn Gehlen wurde weder als Kriegsverbrecher verfolgt, noch floh er nach Übersee.

Auch weniger bekannte Persönlichkeiten treten ohne Grund auf, so ein Franz Haja, SS-Untersturmführer und daher in Glasenbach interniert. Haja, der offenbar keine Veranlassung zu Flucht oder Auswanderung hatte, lebte nach dem Krieg in Oberösterreich. Daß er in der vorliegenden Untersuchung gewürdigt wird, hat seinen Grund darin, daß bei seiner Hochzeit unter anderem der Fluchthelfer Karl Nicolussi-Leck zu Gast war (259). Ausführlich geht Steinacher auch auf den Journalisten Franz Riedl ein, ebenfalls weder Flüchtiger noch Emigrant. Allerdings wurde ihm von Hudal und einem anonymen früheren SS-Mann über deren Bemühungen in Sachen Überfahrten nach Amerika berichtet, was Anlaß für Geraune gibt: »Der Kontakt mit Hudal vernetzte automatisch die Gruppe um Riedl und Nicolussi-Leck mit anderen Flüchtigen.« (261) Nicolussi-Leck ging tatsächlich für einige Jahre nach Argentinien, kann jedoch wie viele andere mangels strafrechtlicher Verfolgung ebenfalls nicht als »Flüchtiger« bezeichnet werden. Was Riedl wirklich gemacht hat, wird nicht konkretisiert. Wie es Steinacher am Ende schafft, von einer »Flucht von Riedl« zu schreiben und im selben Absatz mitzuteilen, daß Riedl nicht emigrierte, ist vollends unerklärlich. (264)

Allgemeine Tendenz und Redaktionelles
In redaktioneller Hinsicht hinterläßt das Buch den Eindruck, als handle es sich um ein Konglomerat aus mehreren selbständigen Arbeiten. Dieser Eindruck ergibt sich vor allem aus den Wiederholungen von Erklärungen, sei es zu einzelnen Personen, sei es zu Verbindungen zwischen Personen. Immer wieder kommt es vor, daß Personen, die aus vorangegangenen Kapiteln bestens bekannt sind (oder sogar, wie Hudal, Gegenstand eines eigenen Kapitels waren), wieder vorgestellt werden, als würden sie die Szene erstmals betreten.

Daß man in einer historischen Untersuchung gelegentlich Informationen vermissen muß, die man gerne erhielte, ist aufgrund der Quellenlage oft unvermeidbar. Vermeidbar wäre es hingegen, mit Informationen versorgt zu werden, die man lieber nicht erhält. Jenseits der Grenze des Wissenswerten liegen zum Beispiel folgende Informationen zu einem gewissen Franz Rufinatscha oder Ruffinengo, einem jungen Mann, der in der italienischen Armee und der deutschen Wehrmacht gedient hatte, auf keine Kriegsverbrechen verweisen konnte, in Genua für die Argentinische Einwanderungskommission arbeitete und von Steinacher über eine ganze Seite gewürdigt wird: »Seine Mutter stammte aus Mähren und war damals Erzieherin in Waidhofen. Sein italienischer Vater Dominico Ruffinengo bekannte sich erst Anfang Oktober 1924 vor dem Standesamt als Kindesvater. Kurz darauf haben die Eltern im Oktober 1924 im Kleinstädtchen Canelli, 100 km nördlich von Genua gelegen, standesamtlich geheiratet. [Fn.]« (253) Solche Perlen der Prosopographie werden jeweils frei in die Darstellung eingestreut, bei mehrmals vorkommenden Personen bei beliebiger Gelegenheit.

Dergleichen ist einfach überflüssig. Inhaltlich relevanter ist die Neigung des Autors zur dramatisierenden Überhöhung banaler Vorgänge. Typisch ist etwa die Bemerkung zur Tätigkeit des Rufinatscha-Ruffinengo: »Bald avancierte Rufinatscha zu einer wichtigen Schlüsselfigur; seine italienische Staatsbürgerschaft, ebenso seine deutschen und italienischen Sprachkenntnisse, waren von unschätzbarem Wert für die neue Aufgabe. [Fn.]« (254) Rufinatscha sprach also wie viele andere Leute Deutsch und Italienisch. Er arbeitete in Italien, und da er Italiener war, fragte niemand nach (es hätte auch sonst niemand nachgefragt, schließlich war sein Arbeitgeber die Argentinische Einwanderungskommission). Anders ausgedrückt: Die angebliche »Schlüsselfigur« mit den »unschätzbaren« Qualitäten wäre leicht zu ersetzen gewesen.

Ähnliches gilt für die bereits oben bemerkte Neigung des Autors, historische Vorgänge stets als Ergebnisse absichtsvoller Planung darzustellen und die Rolle des Zufalls zu ignorieren – Zufall im weitesten Sinn, von unvorhersehbaren Verkettungen bis zu Disfunktionalitäten jeglicher Art. Typisch sind etwa seine Ausführungen zu einem der vielen unmotiviert im Buch vorkommenden Themen, der sogenannten »Operation Sunrise«, das sind die Verhandlungen, die schließlich zur Kapitulation der deutschen Truppen in Italien am 2. Mai 1945 führten. »Sunrise« spielte sich zwischen der Gruppe um den General der Waffen-SS Karl Wolff und den Vertretern des amerikanischen Nachrichtendienstes OSS um Allen Dulles ab. Steinacher interpretiert die Angelegenheit in militärischer Hinsicht als »bedeutungslos« (192), vielmehr seien mit der Kapitulation der deutschen Truppen in Italien weitere antikommunistische Absprachen verbunden gewesen. Deshalb habe man Wolff und seine Leute nachher pfleglich behandelt. Genaueres über die angeblichen geheimdienstlichen Abmachungen weiß man freilich leider nicht – das is eben die List von denen Spionen.

Warum soll nun »Sunrise« militärisch »bedeutungslos« gewesen sein? Das Abkommen wurde am 29. April 1945 unterschrieben, am 2. Mai trat es in Kraft, somit war bei Inkrafttreten der Krieg fast aus. In einer Welt, in der alles Absicht ist, ist das eine gute Erklärung: Ein geschlossenes Abkommen war unnötig, also muß etwas anderes dahinterstecken. Andererseits begannen die »Sunrise«-Verhandlungen bereits im Februar 1945, als seitens der Alliierten noch genug Grund bestand, sich über eine Verkürzung des Kriegs Gedanken zu machen, nicht weil man noch eine Niederlage befürchten mußte, sondern weil man die eigenen Verluste minimieren wollte. Daß sich die Verhandlungen fast drei Monate hinzogen, war eben nicht geplant. Und daß man Wolff, der die Verhandlungen geführt hatte, während Hitler noch am Leben war, dafür schonte, ist auch ohne irgendwelche weiteren Mutmaßungen eine plausible Erklärung.

Eine explizite Reflexion über seine Erklärungen, sei es zu Randthemen wie »Sunrise«, sei es zum Thema der Flucht von nationalsozialistischen Verbrechern, stellt Steinacher nicht an. Auch eine zusammenfassende Gewichtung der gesamten Untersuchungsergebnisse fehlt übrigens.


Anmerkungen
1.Bereits die Vorstellungen des Autors von den Wanderungsbewegungen wirken zum Teil nebelhaft. So schreibt er: »Schließlich begann die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei; ein Großteil der Betroffenen fand in Österreich eine neue Heimat.« (19)
2.International Labor Office, International Migration 1945–1957, Geneva 1959, 308, Table 57, Table 94, Table 103.
3.Ebenda, Table 63, Table 65.
4.Ebenda, Table 82.
5.Ronald C. Newton, The Neutralization of Fritz Mandl: Notes on Wartime Journalism, the Arms Trade, and Anglo-American Rivalry in Argentina during World War II, Hispanic American Historical Review 66/3 (1986), 541–579.

 

Richtigstellung durch Gerald Steinacher

Bis 16.5.2013 schloß die Besprechung mit folgendem Absatz:

Die Perspektive, unter der Steinacher an das Thema herangegangen ist, läßt sich am besten an einer seiner Anekdoten verdeutlichen. Sie betrifft einen ehemaligen belgischen SS-Mann, […], der beruflich mit dem erwähnten (für den Staatsanwalt nicht interessant gewordenen) Nicolussi-Leck zu tun gehabt hatte: »[N. N.; Name von Historicum gelöscht] erlitt kurz vor seinem 61. Geburtstag bei einer Jubilarfeier […] einen Herzinfarkt; auf dem Weg ins Krankenhaus ist der Krankenwagen in einen Unfall verwickelt worden und [N. N.] tödlich verunglückt. Die ungewöhnlichen Umstände seines Todes führten damals zu Gerüchten, die offizielle Unfallversion wurde bezweifelt.« (292) Wer will schon an Herzinfarkte und Unfälle im […] des Jahres 1982 glauben? In einer Welt, in der sogar Erdbeben von Geheimdiensten zum Zweck der Welteroberung erzeugt werden, wie eine Patriarchatsforscherin der Universität Innsbruck (Innsbruck – das ist natürlich wieder kein Zufall!) herausgefunden hat,[6] liegt es nahe, daß [N. N.s] Tod in die Geschichte flüchtiger Kriegsverbrecher gehört. So ist die Welt einfach.

6.Kapitalismus, ein Zerstörungsprojekt. Die Ära der westlichen Ökonomie sei zu Ende, meint die Patriarchatskritikerin Claudia von Werlhof, Standard, 12.2.2010.

Die zitierten Behauptungen Gerald Steinachers über die genannte Person N. N. sind falsch. Der Autor teilte dazu am 16.5.2013 mit:

In dem Buch Nazis auf der Flucht (erschienen 2008) wurde in Bezug auf Herrn [N. N.; Name von Historicum gelöscht] behauptet:
» In […] hielt […] [N. N.], ein ehemaliger belgischer SS-Mann, seine schützende Hand über die Kameraden in den süd­amerikanischen Niederlassungen. (...) [N. N.] erlitt kurz vor seinem 61. Geburtstag bei einer Jubilarfeier […] einen Herzinfarkt; auf dem Weg ins Krankenhaus ist der Krankenwagen in einen Unfall verwickelt worden und [N. N.] tödlich verunglückt. Die ungewöhnlichen Umstände seines Todes führten damals zu Gerüchten, die offizielle Unfallversion wurde bezweifelt. [N. N.] spielte zweifellos eine wichtige Rolle in der Kameradenszene. Offenbar kannten sich Nicolussi-Leck und [N. N.] aus der gemeinsamen Zeit bei[…] bzw. schon aus ihrer Zeit bei der SS-Division ›Wiking‹.«
Diese Behauptungen sind unzutreffend. Verlag und Autor bedauern den Irrtum.

Ebenfalls am 16.5.2013 übermittelte der Anwalt des Geschädigten (Sohn des fälschlich als SS-Mann Bezeichneten) Erklärungen des Autors und des StudienVerlags, in denen sie sich verpflichten,
– die zitierten Behauptungen nicht mehr zu verbreiten und
– das Buch Nazis auf der Flucht nicht zu verbreiten, ohne die betreffende Passage unkenntlich zu machen, etwa durch Schwärzung.

Die Löschung des Namens von N. N. und seiner sonstigen Charakterisierungen in den zitierten Passagen erfolgte auf Wunsch des Geschädigten am 15.5.2014.

 

 

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letzte Änderung: 19.06.2015
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