»Das Buch«, so teilt der Autor sachlich in der Einleitung
mit, »ist von Anfang bis Ende eine spannende Lektüre«
(16):
Gerald Steinacher: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher
über Italien nach Übersee entkamen. Innsbruck, Wien, Bozen (StudienVerlag)
2008, 380 S., Euro 29,90
Der Autor ist Archivar am Südtiroler Landesarchiv in Bozen. Mit der
vorliegenden Arbeit hat er sich an der Universität Innsbruck für
Neuere und Zeitgeschichte habilitiert.
Thema
Bekanntlich flüchtete nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Reihe
von Personen, die an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt
gewesen waren, aus Europa. Die bekanntesten unter ihnen sind Adolf Eichmann
und Josef Mengele. Diese Flucht wurde durch die chaotischen Zustände
der unmittelbaren Nachkriegszeit erleichtert, die es ermöglichten,
mit falscher Identität zu reisen und die entstandenen verwaltungstechnischen
Lücken zu nützen. Unterstützung erhielten flüchtige
Verbrecher von ihresgleichen, aber auch von Personen aus dem Klerus der
katholischen Kirche sowie einzelnen Regierungsstellen der alliierten Staaten;
man leistete administrative Hilfe bei der Beschaffung von Reisedokumenten,
gab Geld und vermittelte nützliche Kontakte.
Diese Unterstützung hatte unterschiedliche Ursachen. Zum einen gab
es in der katholischen Kirche einzelne einflußreiche Persönlichkeiten,
die dem Nationalsozialismus beziehungsweise dem Faschismus ganz und gar
nicht ablehnend gegenüberstanden. Die bekanntesten unter ihnen waren
der aus Österreich stammende Rektor des Collegio Teutonico di Santa
Maria dell’Anima Alois Hudal und der Sekretär der kroatischen
Nationalkirche in Rom Krunoslav Draganovic. Zum anderen verschoben sich
in der Ost-West-Auseinandersetzung nach 1945 die Gewichte in der Weise,
daß beide Seiten für ihre Zwecke auch Nationalsozialisten als
Fachleute und Informationsträger nutzen wollten. Im Fall der beteiligten
westlichen Regierungsstellen und der involvierten Kirchenvertreter wurden
die Nationalsozialisten besonders auch als Antikommunisten wahrgenommen.
Grundsätzlich ist diese Geschichte bis hin zu den Verwicklungen
der handelnden Personen seit langem bekannt. Sie war Thema in den zeitgenössischen
Medien und vor Gericht ebenso wie in der historischen Forschung. Dennoch
ist es ein legitimes Anliegen, den Vorgängen rund um die Flucht von
Nationalsozialisten im einzelnen nachzugehen.
Im vorliegenden Fall ist diese Untersuchung allerdings nicht gelungen.
Anstelle einer präzisen Analyse, einer klaren Trennung von verschwörerischer
Fluchthilfe und sonstigen Vorgängen, wird bloß in etwas
aufgeregtem Tonfall ein Sammelsurium von Anekdoten vorgetragen. Verbindendes
Element ist der Umstand, daß das meiste (wenn auch nicht alles),
was zur Sprache kommt, direkt oder indirekt mit der Migration von deutschsprachigen
Personen nach Südamerika zu tun hat, wobei es nicht so wichtig ist,
ob es sich bei den Migranten um Kriegsverbrecher handelt, um überzeugte
Nationalsozialisten ohne eigene Beteiligung an Verbrechen, um konturlose
Mitläufer oder um Personen, über die man nichts Genaues weiß
(was anscheinend besonders verdächtig ist).
Ausmaß des Geschehens
Die Schwierigkeit des Autors, zwischen der Flucht von Verbrechern und
sonstiger Migration zu unterscheiden, macht es von vornherein schwer,
ein klares Bild vom Umfang des Geschehens zu gewinnen.[1] Im letzten der
fünf Hauptteile des Bandes, in dem die Rolle Argentiniens als besonders
wichtiges Zielland im Mittelpunkt steht, bekommt man erstmals Informationen
dieser Art.
Die argentinische Regierung, so wird mitgeteilt, habe Pläne für
die Einwanderung von 4 Millionen Europäern nach Argentinien geschmiedet
und dafür eigene Dienststellen eingerichtet (251). Faktisch hatte
Argentinien zwischen 1946 und 1957 bei einer Bevölkerung von knapp
16 Millionen dann einen Wanderungsgewinn von etwa 800000 Personen, davon
drei Viertel aus Europa.[2] Aus dem Gebiet der BRD, Österreich und
der Schweiz wanderten zwischen 1946 und 1957 knapp 1,4 Millionen Personen
aus, darunter mehr als die Hälfte Displaced Persons; etwas mehr als
ein Viertel der Gesamtzahl ging nach Südamerika.[3]
Steinacher legt nun die Einwanderungspolitik der argentinischen Regierung
und des Direktors ihrer Einwanderungsbehörde Santiago Peralta so
aus, als sei es vorrangiges Ziel gewesen, Nationalsozialisten ins Land
zu holen. Über Peralta liest man: »Für die ›braunen
Flüchtlinge‹ war seine Berufung zum Direktor der Einwanderungsbehörde
geradezu ein Volltreffer: Denn Peralta legte die Richtlinien für
die Einwanderungsbehörde zu ihren Gunsten fest.« (238)
Nüchterner betrachtet, begünstigten die Richtlinien hellhäutige
Europäer mit guter Ausbildung, wenn möglich katholischer Religion
und am besten mit romanischer Muttersprache – nicht eben ein präziser
Steckbrief für braune Flüchtlinge. Tatsächlich wanderten
nach manchen Quellen in Argentinien zwischen 1946 und 1955 nur ungefähr
66000 Deutsche ein (237), nach anderen Quellen waren es noch weitaus weniger.[4]
Jedenfalls bildeten die Deutschen eine kleine Minderheit unter den Argentinienwanderern,
die überwältigende Mehrheit kam aus Italien oder Spanien. Die
deutsche Emigration nach Südamerika lief zu großen Teilen über
Italien ab, was einen banalen Grund hatte: Argentinien hatte keine Vertretung
in Österreich und Deutschland, wohl aber in Italien.
Unter all diesen Migranten befand sich zwar eine gewisse Zahl von Kriegsverbrechern,
aber der größte Teil war in diesem Sinn nicht belastet. Für
Argentinien existieren vage Schätzungen, es seien 300 bis 800 höhergradige
Nationalsozialisten eingewandert, darunter mindestens 180 Kriegsverbrecher
aus verschiedenen europäischen Ländern (237). Für ein Verständnis
der Vorgänge ist dies wichtig: Sowohl die Paßbehörden
in Europa als auch die Einwanderungsbehörden in den südamerikanischen
Ländern hatten es überwiegend mit Personen zu tun, gegen die
nichts vorlag. Selbst unter den politisch dubiosen Figuren waren viele,
die keine strafrechtliche Verfolgung zu befürchten hatten. Die wirklichen
Verbrecher, die sehr wohl Verfolgung erwarten konnten, reisten in der
Regel unter einer falschen Identität. Ein großer Teil der Vorgänge
läßt sich daher schon dadurch erklären, daß es für
Verbrecher nicht allzu schwer war, in der großen Menge harmloser
Migranten unauffällig mitzuwandern.
Dazu kommen die Rahmenbedingungen, die eine effektive Kontrolle erschwerten.
Viele europäische Migranten jener Jahre hatten tatsächlich keine
Möglichkeit, zu Reisepässen ihrer Heimatländer zu kommen.
Dies gilt für Displaced Persons ebenso wie für Volksdeutsche,
also Personen insbesondere aus Ost- und Südosteuropa, die aus ihren
Wohnsitzen vertrieben waren. Für diese Personen mußten Dokumente
ersatzweise bereitgestellt werden, wobei die dafür erforderlichen
Nachweise aufgrund der Umstände der Vertreibung oft schwer zu erbringen
waren. Für Migranten aus Deutschland war es vor der Gründung
der Bundesrepublik und dem Paßgesetz vom 4. März 1952 ebenfalls
nicht leicht, zu Reisepässen zu kommen. Eine Reihe von Personen gab
sich daher fälschlicherweise als Vertriebene aus, um so zu einem
Ersatzdokument zu kommen, das für sie eigentlich nicht vorgesehen
war. Es ist zwar unschön, wenn Menschen die Unwahrheit sagen, aber
falsche Angaben vor einer Paßbehörde bedeuten noch lange nicht,
daß man ein flüchtiger Kriegsverbrecher war.
Das heißt selbstverständlich nicht, daß es den eingangs
erwähnten Mißbrauch und die in voller Absicht gewährte
Fluchthilfe für Verbrecher nicht gegeben hätte. Es ist keine
Frage, daß Unterstützung etwa in Form von Bescheinigungen kirchlicher
Stellen, Unterbringung und Geld gewährt wurde. Ebenso fraglos profitierten
davon neben vielen harmlosen Personen auch Verbrecher. Kirchenvertreter
wie Hudal und Draganovic4 wußten in vielen Fällen genau, mit
wem sie es zu tun hatten, in anderen Fällen konnten sie es vermuten.
Vor sich selbst und teilweise nach außen rechtfertigten sie ihr
Engagement auch damit, es handle sich um reuige Sünder, Hilfe für
Flüchtlinge sei ein Gebot der Menschlichkeit, die Flüchtigen
seien von Kommunisten verfolgt und so weiter. Dergleichen braucht man
nicht besonders ernst zu nehmen – Fluchthelfer wie die beiden erwähnten
handelten eben mit dem Vorsatz, nationalsozialistische und faschistische
Verbrecher beim Entkommen zu unterstützen.
Anders sieht es mit den Paßbehörden aus. Um die Vorgänge
verstehen zu können, muß man sich in die Rolle einer Behörde
versetzen, die mit einer enormen Menge von migrationswilligen Personen
konfrontiert war, denen oft die erforderlichen Dokumente abgingen und
über die man auch sonst nicht viel wußte. Für diese Personen
sollte es rasch Lösungen geben. Die plausibelste Annahme ist, daß
man solche Lösungen im Wissen anstrebte, daß sie im Großteil
der Fälle zu vertretbaren Ergebnissen führen würden. Daß
in einem kleinen Teil der Fälle auch belastete Personen davon profitieren
könnten, konnte man wohl annehmen, es war aber nicht der Zweck der
Übung. Wenn man sich hingegen rückblickend nur mit Kriegsverbrechern
befaßt, wird man zum Schluß kommen, daß vor allem Kriegsverbrecher
wanderten, und wird diese Auffälligkeit damit erklären, daß
alle befaßten Stellen die Absicht verfolgten, solche Täter
entkommen zu lassen. Das vereinfacht zwar die Erklärung, ist aber
wirklichkeitsfremd. Typisch für Steinachers Ansatz sind seine Ausführungen
über das Rote Kreuz.
Rolle des Roten Kreuzes
So wie viele andere auch bediente sich eine Reihe flüchtiger Nationalsozialisten
der Pässe, die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ausstellte.
Der betreffende Abschnitt in Steinachers Buch trägt die Überschrift
»Die Mitschuld des Internationalen Roten Kreuzes«,
was bereits die Tendenz des Autors zur moralisierenden Darstellung kennzeichnet.
Sachlich kann man die Rolle des Roten Kreuzes und die damit verknüpften
Umstände in etwa so umreißen:
– Das IKRK stellte Pässe für Personen aus, die keine gültige
Pässe hatten und sich auch keine beschaffen konnten.
– Die Pässe hatten eine begrenzte Gültigkeit und waren
als einmalige Passierscheine für Fälle gedacht, in denen Ausreise
und Einreise von den involvierten Ländern genehmigt waren.
– Die Pässe wurden dennoch in manchen Fällen weit über
ihre Gültigkeitsdauer hinaus benutzt.
– Die Identitätsnachweise, auf deren Basis die Pässe ausgestellt
wurden, waren unsicher und machten es Antragstellern leicht, unter falschem
Namen und mit falschen persönlichen Daten zu reisen.
– Die IKRK-Dokumente wurden anscheinend oft gefälscht.
Im Ergebnis war es so, daß eine Reihe von Kriegsverbrechern mit
echten oder gefälschten Rotkreuz-Pässen flüchteten, vorzugsweise
nach Südamerika, und diese Pässe dort oft noch lange weiterverwendeten.
Die Rolle des Roten Kreuzes dabei mit dem Ausdruck Mitschuld zu erledigen,
trägt zum Verständnis allerdings nichts bei.
Wesentlich ist zunächst die Frage, wie es überhaupt zur Ausstellung
von Rotkreuz-Pässen kam. Diese Pässe wurden deshalb ausgestellt,
weil die International Refugee Organization (IRO), die, wie ihr Name sagt,
für Flüchtlinge zuständig war, Flüchtlinge deutscher
Herkunft nicht in ihren Aufgabenbereich einbezog. Bekanntlich gab es sehr
viele solcher Flüchtlinge, nämlich Millionen deutschsprachige
Personen aus Ost- und Südosteuropa, die im Sinn der IRO als Deutsche
galten: »In den Augen der Siegermächte waren sie Täter
– und nicht Opfer – des Zweiten Weltkriegs.« (73)
Das Rote Kreuz nahm sich solcher Personen an, die selbstverständlich
zum größten Teil nicht an Verbrechen beteiligt gewesen waren.
Freilich eröffnete sich damit für wirkliche Verbrecher die
Möglichkeit, als vermeintlich harmlose Flüchtlinge deutscher
Herkunft ebenfalls die Dienste des Roten Kreuzes in Anspruch zu nehmen.
Hier wurden nun die Schwierigkeiten in der Feststellung der Identität
offenbar, die sich unter den zeitbedingten Umständen ergaben. Es
ist keine Frage, daß die Identitätsnachweise, die das Rote
Kreuz verlangte, für jeden, der es darauf anlegte, unabhängig
von ihrer Richtigkeit verhältnismäßig leicht zu erbringen
waren. Praktisch genügte bis 1947 bereits die Zeugenaussage von zwei
Personen als Bestätigung der gemachten Angaben, womit drei Personen
einander nach Belieben Identitätsnachweise liefern konnten. Dieser
Umstand war den Verantwortlichen des Roten Kreuzes ebenso wie außenstehenden
Beobachtern bewußt, weshalb man sich um eine Änderung der Anforderungen
bemühte. Ab 1947 mußten dann weitere Nachweise der Identität
in Form von schriftlichen Dokumenten vorgelegt werden.
Für eine Einschätzung der alldem zugrundeliegenden Motive müssen
freilich die äußeren Bedingungen berücksichtigt werden.
Bei Steinacher kommen die Vorgänge so heraus, als wäre es gerade
der Zweck der IKRK-Pässe gewesen, nationalsozialistischen Verbrechern
das Entkommen zu ermöglichen. Tatsächlich ist im überwiegenden
Teil der Fälle ein viel planloseres, von den zeitbedingten verwaltungstechnischen
Schwierigkeiten, von Inkompetenz und Schlamperei und so weiter gekennzeichnetes
Vorgehen anzunehmen. Es gab eben wirklich viele harmlose Flüchtlinge,
um die sich die IRO nicht kümmerte, weil sie als Deutsche galten.
Solche Flüchtlinge hatten auch wirklich oft Schwierigkeiten, ihre
Identität nachzuweisen, weil sie keine Papiere mehr besaßen
und aus ihren Wohnsitzen vertrieben waren. Die für die Ausstellung
der Rotkreuz-Papiere geltenden Anforderungen waren von diesen Umständen
geprägt. Regelungen, die Kriegsverbrecher zuverlässig daran
gehindert hätten, sich falsche Rotkreuz-Pässe zu verschaffen,
hätten wahrscheinlich auch die Ausstellung von Papieren für
einen großen Teil der harmlosen Flüchtlinge verhindert.
Darüber hinaus muß betont werden, daß Personen, die
unbedingt flüchten wollten, sich auch unter den erschwerten Bedingungen
der späten vierziger Jahre falsche Papiere beschaffen konnten. So
verfügte der ehemalige Linzer Gestapo-Chef Gerhard Bast unter anderem
über eine 1939 ausgestellte falsche slowenische Geburtsurkunde und
diverse weitere falsche Dokumente aus der Zeit nach 1945, was auch strengen
Maßstäben genügte. Ähnliches konnten andere belastete
Personen vorlegen. Es war aus Sicht des IKRK kein Grund erkennbar, warum
man solchen harmlos auftretenden Antragstellern den Paß hätte
verweigern sollen.
Die weiteren von Steinacher angeführten wirklichen oder vermeintlichen
Mißbräuche im Zusammenhang mit den IKRK-Dokumenten sind entweder
gar nicht als Mißbrauch anzusehen oder lagen nicht im Verantwortungsbereich
des Roten Kreuzes. Beispielsweise führt der Autor über eine
halbe Seite den Fall eines Mannes auf, der zweimal einen Antrag auf Ausstellung
eines IKRK-Passes stellte. Der erste Paß wurde anscheinend Mitte
1946 ausgestellt, aber nie abgeholt, der zweite Paß wurde 1947 ausgestellt
und dem Antragsteller übergeben. Das ist zwar tatsächlich eine
»Mehrfachausstellung von IKRK-Reisetiteln« (84),
aber offenkundig kein Mißbrauch, da nur eines der beiden Dokumente
ausgefolgt wurde. In einem anderen Fall zitiert der Autor den Antrag eines
gewissen Heinrich Bottcher: »Bottcher war angeblich in Magdeburg
geboren und gab sich als Sudetendeutscher aus, um in den begehrten Status
des ›Staatenlosen‹ zu gelangen. Nun liegt Magdeburg nicht
im Sudetenland, doch das IKRK scherte sich offenbar wenig um die Korrektheit
der Angaben.« (86) Man kann aber in Magdeburg geboren und dennoch
Sudetendeutscher gewesen sein, nämlich dann, wenn man vor 1938 Bürger
der Tschechoslowakei und Angehöriger der deutschen Minderheit in
den sogenannten Sudetenländern war, wofür der Geburtsort unerheblich
war. Selbstverständlich ist es möglich, daß der Antragsteller
Bottcher in Wahrheit ein verkappter Kriegsverbrecher war, doch führt
Steinacher dazu nichts aus.
Ohnehin außerhalb des Verantwortungsbereichs des Roten Kreuzes
lagen die Fälschungen von Reisedokumenten, die Steinacher in einem
Atemzug mit allen anderen Kritikpunkten nennt. Gewiß waren IKRK-Papiere
offenbar leicht zu fälschen, wobei das Rote Kreuz in dieser Hinsicht
auch dazulernte. Dennoch kann man es einer Paßbehörde nicht
gut vorwerfen, wenn Verbrecher ihre Dokumente fälschen.
Schließlich war das Rote Kreuz nicht dafür verantwortlich,
daß seine Pässe entgegen ihrem vorgesehenen Zweck mehr oder
weniger unbefristet als Identitäts- und Reisedokumente verwendet
wurden. Auch hier gilt, daß es nicht im Verantwortungsbereich einer
Paßstelle liegt, wenn ihre Papiere über die Gültigkeitsdauer
hinaus verwendet und von anderen Behörden akzeptiert werden (abgesehen
davon ist dieser Punkt für die Flucht selbst unerheblich).
Alles in allem ist dieser Abschnitt also vom Bemühen des Autors
geprägt, die Ausstellung von Pässen durch das IKRK als großangelegten
planmäßigen Mißbrauch darzustellen. Das Ergebnis überzeugt
nicht.
Verbrecher und andere
Die Arbeit befaßt sich dem Untertitel nach mit dem Fluchtweg von
Kriegsverbrechern. Eine Reihe solcher Fälle wird auch wirklich besprochen.
Dazu kommt aber noch eine beträchtliche Zahl von Personen, die bei
ihrer Auswanderung nach Übersee zum Teil ebenfalls das Rote Kreuz
oder auch die Hilfe kirchlicher Stellen in Anspruch nahmen, die man den
vorliegenden Informationen nach aber nicht als flüchtige Kriegsverbrecher
einstufen kann. Dazu gehören Personen,
– deren Akten dem Autor, ob berechtigt oder nicht, auffällig
erscheinen, zu denen aber sonst nichts bekannt ist; oder
– die bei aktenmäßiger Nachprüfung von Standesdokumenten
ihrer angeblichen Herkunftsorte nicht auffindbar sind und die demzufolge
möglicherweise unter falschen Namen gereist sind; oder
– die zwar überzeugte Nationalsozialisten waren, aber keiner
strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt waren und daher auch nicht zu »flüchten«
hatten; oder
– die nach Übersee geflüchtet waren, weil sie Verfolgte
des Nationalsozialismus waren.
Die unterschiedslose Einbeziehung all dieser Personen in die Untersuchung
ist einer der Hauptmängel des Buchs.
Bekannte Nationalsozialisten waren etwa die Flieger Hans-Ulrich Rudel,
Adolf Galland und Werner Baumbach; Rudel blieb jahrzehntelang nach dem
Krieg eine prominente Figur im rechtsextremen Milieu. Im Zusammenhang
mit diesen Personen ist zwar immer von »Flucht« die Rede,
aber es ist unerfindlich, wovor sie »geflüchtet« wären.
Jedenfalls flohen sie nicht vor einer Verfolgung wegen Kriegsverbrechen:
Alle drei waren aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Ihre Identität
war den alliierten und den deutschen Behörden wohlbekannt. Soweit
es überhaupt Vorwürfe wegen Verstößen gegen das Kriegsrecht
gegeben hatte, waren sie fallengelassen worden. Die drei gingen 1948 nach
Argentinien, um dort als Militärberater zu arbeiten. Baumbach stellte
seinen Paßantrag an das IKRK unter seinem richtigen, Rudel unter
einem falschen Namen (Rudel sah von sich aus übrigens keine Notwendigkeit
zu einem Namenswechsel, die Idee kam von der Südtiroler Gruppe, die
ihm Papiere verschaffte). Baumbach kam dann in Argentinien bei einem Unfall
ums Leben, die anderen beiden kamen bald wieder nach Deutschland, erwartungsgemäß
ohne dort Schwierigkeiten zu bekommen.
Die Liste läßt sich mit bekannten und unbekannten Namen fortsetzen.
Gustav Lantschner etwa, Skirennfahrer und Filmschauspieler, soll mit seinem
Bruder (einem exponierten Nationalsozialisten, der tatsächlich befürchten
mußte, strafrechtlich verfolgt zu werden) nach Argentinien »geflüchtet«
sein (267–268). Tatsächlich hatte Gustav Lantschner keinen
Grund zur »Flucht«, sondern allenfalls zur Auswanderung. Ein
Bekannter Lantschners war der Wirt Cornelius Dellai, angeblich Nationalsozialist,
über den es heißt : »Ab 1943 leitete er eine lokale
Polizeieinheit, die unter anderem mit der Suche nach alliierten Piloten
und Deserteuren betraut war.« (270) Welche Kriegsverbrechen
Dellai dabei begangen hat, wird offengelassen. Dann zitiert Steinacher
aus einer Hotel-Festschrift, die wiederum von Gerüchten berichtet,
Dellai sei angeblich mehrmals von der italienischen Polizei kontrolliert
worden. Das Ergebnis lautet: »Nach dem Krieg floh Dellai jedenfalls
zusammen mit den Lantschners über Südtirol ins argentinische
Bariloche.« (270) Der Lehrer Friedrich Hofer, der nach Steinacher
ebenfalls »flüchtete«, »gehörte
zwar nicht zum engsten Kreis der NS-Bewegung, seine weltanschauliche Haltung
war aber klar« (275), mit anderen Worten, gegen den Mann lag
nichts strafrechtlich Relevantes vor.
Dann gibt es die Fälle, über die wesentliche Informationen
fehlen, etwa auch über den Grad ihrer Sympathie für den Nationalsozialismus.
Solche Personen erregen anscheinend Verdacht. An dem Diplomingenieur Siegfried
Büsch fiel Steinacher auf, daß er eine Herkunft aus Hermannstadt
geltend machte, um zu einem Rotkreuz-Paß zu kommen, während
seine Frau Grazerin und sein Sohn in der Steiermark geboren war: »Die
Siebenbürger Herkunft der Familie Büsch war offenbar frei erfunden.«
(291) Das ist durchaus möglich, obwohl die Verehelichung eines Mannes
aus Hermannstadt mit einer Grazerin an sich nicht unzulässig wäre.
An die spärlichen Informationen über Büsch schließt
der nächste Satz mit den Worten an: »Andere Kriegsverbrecher
bei der CAPRI …« (291). Worin Büschs eigene Kriegsverbrechen
bestanden, bleibt unerwähnt. Über den im selben Absatz behandelten
Franz Kienast erfährt man zwar verschiedene seine Überfahrt
betreffende Einzelheiten, nichts aber darüber, warum er Erwähnung
findet.
Ein besonderer Fall war jener von Fritz Mandl, eine schillernde Figur
und ein bekannter Name in der österreichischen Industriegeschichte.
Auch Mandl war nach Argentinien gegangen, aber schon früher. Die
Informationen zu Mandl seien in voller Länge zitiert: »Der
österreichische Waffenfabriksbesitzer Fritz Mandl stand [Ludwig]
Freude an Einfluss nicht nach. Im ›Dritten Reich‹ hatte er
gute Kontakte zu Hermann Göring und konnte dadurch seinen Einfluss
und seine Monopolstellung weiter ausbauen. Mandl hatte schon seit 1938
enge Kontakte zu Argentinien, wo er Niederlassungen gründete. Nach
dem Krieg heuerte der Großunternehmer deutsche Militärexperten
und Wissenschaftler für seine Waffenfabriken in Argentinien an. Mandl
lebte während des Krieges in Argentinien und avancierte ab 1946 zu
einem Berater Peróns. Die CIA stufte ihn sogar als ›graue
Eminenz‹ hinter Peróns Wirtschaftsplänen ein. Freude
wäre demnach nichts anderes als der Frontmann von Mandl gewesen.
[Fn.]« (252) Mit alldem, besonders auch mit der Beziehung zu
Ludwig Freude, einem Unternehmer und Berater Peróns und bei Steinacher
die »Schlüsselfigur im ›braunen Netzwerk‹«,
wird Mandl mehr oder weniger ununterscheidbar in die Riege der nationalsozialistischen
Kriegsverbrecher eingereiht.
In einem so geschwätzigen Buch, das im allgemeinen auch irrelevanteste
biographische Details nicht unterschlägt, sofern sie nur dem Autor
irgendwo untergekommen sind, hätten einige ergänzende Bemerkungen
über Mandl den Rahmen nicht gesprengt. Zum Beispiel darüber,
warum denn der Industrielle, Generaldirektor der Hirtenberger Patronenfabrik
vor 1938 und nach 1955, während des Kriegs in Argentinien war: Sein
Vater Alexander Mandl, vor ihm bereits Generaldirektor der Hirtenberger,
war jüdisch (Fritz Mandl selbst war katholisch), weshalb das nationalsozialistische
Regime beide verfolgte. Der Vater wurde nach dem deutschen Einmarsch gefangengenommen,
der Sohn war bereits in die Schweiz entwichen. Mit Göring korrespondierte
Fritz Mandl tatsächlich eine Zeitlang in industriellen Angelegenheiten,
was aber kriegsbedingt keine Folgen hatte. Insbesondere hatte Mandl keine
Monopolstellung in irgendeinem Bereich. Vor allem ging es bei seinen Kontakten
mit der deutschen Regierung aber um die Freilassung seines Vaters und
um die Abfindung für seine Vermögensverluste (Mandl hatte für
den Fall der deutschen Okkupation vorgesorgt und konnte im Zug der Enteignung
eine Teilabfindung erzwingen).
Mandl stand einer Reihe von autoritären und faschistischen Regimen
(im besonderen auch Mussolini) sowie den österreichischen Heimwehren
nahe und nutzte opportunistisch und ohne besondere Hemmungen seine Kontakte
für seine industriellen Unternehmungen und auch für ungesetzliche
Aktivitäten (am bekanntesten ist seine Beteiligung an der Hirtenberger
Waffenaffäre 1933). Seine argentinischen Besitzungen wurden Mandl
dann 1945 auf Betreiben der britischen und der amerikanischen Regierung
entzogen, die keine unkontrollierte argentinische Waffenindustrie wünschten.
Begleitet wurde die Kampagne von vielen Umtrieben im Hintergrund, darunter
vielfachen falschen nachrichtendienstlichen Informationen, die zum Teil
auf Irrtum beruhten, zum Teil wohl gezielt verbreitet wurden (bemerkenswert
waren dabei auch die antisemitischen Untertöne).[5] Wie aus der zitierten
Stelle ersichtlich, halten sich solche Informationen der CIA auch noch
nach sechzig Jahren.
Abseits des Themas
Neben der unterschiedslos behandelten Flucht von und vor Nationalsozialisten
und der gewöhnlichen Überseewanderung bespricht Steinacher noch
eine Reihe von weiteren Fällen, die ihm im Zug seiner Arbeit untergekommen
sind, aber mit dem Thema von Flucht und Fluchthilfe nichts zu tun haben.
Manches davon bezieht sich einfach auf Einzelheiten der Südtiroler
Lokalgeschichte. À propos Meran, das als Durchgangsstation auf
den Routen nach Übersee eine gewisse Rolle spielte, erinnert sich
der Südtirol-Kenner: »Prominente Täter konnten also nach
1950 wieder auf ihre Schweizer Konten zugreifen, das war mit ein Grund
für die Beliebtheit von Meran, das nur unweit der Schweizer Grenze
liegt. Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, der größere
Summen in der Schweiz angelegt hatte, konnte in Meran also beruhigt in
die Zukunft sehen. [Fn.] Schacht lebte nach Kriegsende noch bis Anfang
der 1960er Jahre in Meran. Von dort steuerte er seine Geschäfte und
Kontakte, besonders zu seinem Schwiegersohn, dem SS-Offizier Otto Skorzeny.«
(55–56) Schacht wohnte wirklich zeitweise in Meran. Daß der
frühere Reichsbankpräsident die Kurstadt wegen seiner Schweizer
Konten und seiner sinistren Geschäfte mit dem angeheirateten Neffen
(es war die Nichte, nicht die Tochter) gewählt haben soll, ist freilich
eine bemühte Dämonisierung der Szenerie – Schacht war
für seine Geschäfte nicht auf den Weg zur nächstgelegenen
Bankfiliale angewiesen und unterhielt überdies seine Konten wohl
weniger bei den Volksbanken und Sparkassen des Engadin als bei Zürcher
Banken. Mit der Flucht von Kriegsverbrechern hat all das ohnehin nichts
zu tun, denn Schacht wurde nach der für ihn günstigen Beendigung
seiner Verfahren weder strafrechtlich verfolgt, noch ging er überhaupt
nach Übersee. Es handelt sich einfach um Name-dropping der überflüssigeren
Sorte.
Meran ist auch sonst für Geschichten abseits des eigentlichen Themas
gut, so über die Läufte der Familie Mengele: »Mengele
vertraute seine Familie ehemaligen Südtiroler Fluchthelfern in Meran
an. […] Im September 1962 übersiedelte Martha Mengele in die
Parkstraße in Meran, ohne jemals behelligt zu werden.«
(56) Warum Josef Mengele im Jahr 1962 seine Frau (er hatte neun Jahre
nach seiner Flucht die Witwe seines 1949 verstorbenen Bruders geheiratet)
für deren Übersiedlung nach Meran ehemaligen Fluchthelfern anvertrauen
mußte, ist freilich nicht recht erfindlich, da man in den sechziger
Jahren auf normale Weise reisen und eine Wohnung mieten konnte und Frau
Mengele bereits geschäftsfähig war. Dann folgt eine längere
Geschichte über die 1969 gegründete Firma Mengele & Steiner
in Meran, einer Tochter der Günzburger Landmaschinenfabrik Mengele,
mit Mutmaßungen, daß man sich bei der Gründung für
eine (wiederum nur geargwöhnte) Fluchthilfe habe revanchieren wollen.
Zwischendurch wird – Name-dropping – eine dreiviertel Seite
Reinhard Gehlen gewidmet, seit 1942 leitender Nachrichtenoffizier im Generalstab
(201–202). Warum hier eine Kurzbiographie des ersten Chefs des Bundesnachrichtendiensts
deponiert wird, ist gänzlich unklar, denn Gehlen wurde weder als
Kriegsverbrecher verfolgt, noch floh er nach Übersee.
Auch weniger bekannte Persönlichkeiten treten ohne Grund auf, so
ein Franz Haja, SS-Untersturmführer und daher in Glasenbach interniert.
Haja, der offenbar keine Veranlassung zu Flucht oder Auswanderung hatte,
lebte nach dem Krieg in Oberösterreich. Daß er in der vorliegenden
Untersuchung gewürdigt wird, hat seinen Grund darin, daß bei
seiner Hochzeit unter anderem der Fluchthelfer Karl Nicolussi-Leck zu
Gast war (259). Ausführlich geht Steinacher auch auf den Journalisten
Franz Riedl ein, ebenfalls weder Flüchtiger noch Emigrant. Allerdings
wurde ihm von Hudal und einem anonymen früheren SS-Mann über
deren Bemühungen in Sachen Überfahrten nach Amerika berichtet,
was Anlaß für Geraune gibt: »Der Kontakt mit Hudal
vernetzte automatisch die Gruppe um Riedl und Nicolussi-Leck mit anderen
Flüchtigen.« (261) Nicolussi-Leck ging tatsächlich
für einige Jahre nach Argentinien, kann jedoch wie viele andere mangels
strafrechtlicher Verfolgung ebenfalls nicht als »Flüchtiger«
bezeichnet werden. Was Riedl wirklich gemacht hat, wird nicht konkretisiert.
Wie es Steinacher am Ende schafft, von einer »Flucht von Riedl«
zu schreiben und im selben Absatz mitzuteilen, daß Riedl nicht
emigrierte, ist vollends unerklärlich. (264)
Allgemeine Tendenz und Redaktionelles
In redaktioneller Hinsicht hinterläßt das Buch den Eindruck,
als handle es sich um ein Konglomerat aus mehreren selbständigen
Arbeiten. Dieser Eindruck ergibt sich vor allem aus den Wiederholungen
von Erklärungen, sei es zu einzelnen Personen, sei es zu Verbindungen
zwischen Personen. Immer wieder kommt es vor, daß Personen, die
aus vorangegangenen Kapiteln bestens bekannt sind (oder sogar, wie Hudal,
Gegenstand eines eigenen Kapitels waren), wieder vorgestellt werden, als
würden sie die Szene erstmals betreten.
Daß man in einer historischen Untersuchung gelegentlich Informationen
vermissen muß, die man gerne erhielte, ist aufgrund der Quellenlage
oft unvermeidbar. Vermeidbar wäre es hingegen, mit Informationen
versorgt zu werden, die man lieber nicht erhält. Jenseits der Grenze
des Wissenswerten liegen zum Beispiel folgende Informationen zu einem
gewissen Franz Rufinatscha oder Ruffinengo, einem jungen Mann, der in
der italienischen Armee und der deutschen Wehrmacht gedient hatte, auf
keine Kriegsverbrechen verweisen konnte, in Genua für die Argentinische
Einwanderungskommission arbeitete und von Steinacher über eine ganze
Seite gewürdigt wird: »Seine Mutter stammte aus Mähren
und war damals Erzieherin in Waidhofen. Sein italienischer Vater Dominico
Ruffinengo bekannte sich erst Anfang Oktober 1924 vor dem Standesamt als
Kindesvater. Kurz darauf haben die Eltern im Oktober 1924 im Kleinstädtchen
Canelli, 100 km nördlich von Genua gelegen, standesamtlich geheiratet.
[Fn.]« (253) Solche Perlen der Prosopographie werden jeweils
frei in die Darstellung eingestreut, bei mehrmals vorkommenden Personen
bei beliebiger Gelegenheit.
Dergleichen ist einfach überflüssig. Inhaltlich relevanter
ist die Neigung des Autors zur dramatisierenden Überhöhung banaler
Vorgänge. Typisch ist etwa die Bemerkung zur Tätigkeit des Rufinatscha-Ruffinengo:
»Bald avancierte Rufinatscha zu einer wichtigen Schlüsselfigur;
seine italienische Staatsbürgerschaft, ebenso seine deutschen und
italienischen Sprachkenntnisse, waren von unschätzbarem Wert für
die neue Aufgabe. [Fn.]« (254) Rufinatscha sprach also wie
viele andere Leute Deutsch und Italienisch. Er arbeitete in Italien, und
da er Italiener war, fragte niemand nach (es hätte auch sonst niemand
nachgefragt, schließlich war sein Arbeitgeber die Argentinische
Einwanderungskommission). Anders ausgedrückt: Die angebliche »Schlüsselfigur«
mit den »unschätzbaren« Qualitäten wäre leicht
zu ersetzen gewesen.
Ähnliches gilt für die bereits oben bemerkte Neigung des Autors,
historische Vorgänge stets als Ergebnisse absichtsvoller Planung
darzustellen und die Rolle des Zufalls zu ignorieren – Zufall im
weitesten Sinn, von unvorhersehbaren Verkettungen bis zu Disfunktionalitäten
jeglicher Art. Typisch sind etwa seine Ausführungen zu einem der
vielen unmotiviert im Buch vorkommenden Themen, der sogenannten »Operation
Sunrise«, das sind die Verhandlungen, die schließlich zur
Kapitulation der deutschen Truppen in Italien am 2. Mai 1945 führten.
»Sunrise« spielte sich zwischen der Gruppe um den General
der Waffen-SS Karl Wolff und den Vertretern des amerikanischen Nachrichtendienstes
OSS um Allen Dulles ab. Steinacher interpretiert die Angelegenheit in
militärischer Hinsicht als »bedeutungslos« (192), vielmehr
seien mit der Kapitulation der deutschen Truppen in Italien weitere antikommunistische
Absprachen verbunden gewesen. Deshalb habe man Wolff und seine Leute nachher
pfleglich behandelt. Genaueres über die angeblichen geheimdienstlichen
Abmachungen weiß man freilich leider nicht – das is eben die
List von denen Spionen.
Warum soll nun »Sunrise« militärisch »bedeutungslos«
gewesen sein? Das Abkommen wurde am 29. April 1945 unterschrieben, am
2. Mai trat es in Kraft, somit war bei Inkrafttreten der Krieg fast aus.
In einer Welt, in der alles Absicht ist, ist das eine gute Erklärung:
Ein geschlossenes Abkommen war unnötig, also muß etwas anderes
dahinterstecken. Andererseits begannen die »Sunrise«-Verhandlungen
bereits im Februar 1945, als seitens der Alliierten noch genug Grund bestand,
sich über eine Verkürzung des Kriegs Gedanken zu machen, nicht
weil man noch eine Niederlage befürchten mußte, sondern weil
man die eigenen Verluste minimieren wollte. Daß sich die Verhandlungen
fast drei Monate hinzogen, war eben nicht geplant. Und daß man Wolff,
der die Verhandlungen geführt hatte, während Hitler noch am
Leben war, dafür schonte, ist auch ohne irgendwelche weiteren Mutmaßungen
eine plausible Erklärung.
Eine explizite Reflexion über seine Erklärungen, sei es zu
Randthemen wie »Sunrise«, sei es zum Thema der Flucht von
nationalsozialistischen Verbrechern, stellt Steinacher nicht an. Auch
eine zusammenfassende Gewichtung der gesamten Untersuchungsergebnisse
fehlt übrigens.
Anmerkungen
1.Bereits die Vorstellungen des Autors von den Wanderungsbewegungen wirken
zum Teil nebelhaft. So schreibt er: »Schließlich begann
die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei; ein Großteil
der Betroffenen fand in Österreich eine neue Heimat.«
(19)
2.International Labor Office, International Migration 1945–1957,
Geneva 1959, 308, Table 57, Table 94, Table 103.
3.Ebenda, Table 63, Table 65.
4.Ebenda, Table 82.
5.Ronald C. Newton, The Neutralization of Fritz Mandl: Notes on Wartime
Journalism, the Arms Trade, and Anglo-American Rivalry in Argentina during
World War II, Hispanic American Historical Review 66/3 (1986),
541–579.
Richtigstellung durch Gerald Steinacher
Bis 16.5.2013 schloß die Besprechung mit folgendem Absatz:
Die Perspektive, unter der Steinacher an das Thema
herangegangen ist, läßt sich am besten an einer seiner Anekdoten
verdeutlichen. Sie betrifft einen ehemaligen belgischen SS-Mann, […],
der beruflich mit dem erwähnten (für den Staatsanwalt nicht
interessant gewordenen) Nicolussi-Leck zu tun gehabt hatte: »[N.
N.; Name von Historicum gelöscht] erlitt kurz vor seinem 61. Geburtstag
bei einer Jubilarfeier […] einen Herzinfarkt; auf dem Weg ins Krankenhaus
ist der Krankenwagen in einen Unfall verwickelt worden und [N. N.] tödlich
verunglückt. Die ungewöhnlichen Umstände seines Todes führten
damals zu Gerüchten, die offizielle Unfallversion wurde bezweifelt.«
(292) Wer will schon an Herzinfarkte und Unfälle im […] des
Jahres 1982 glauben? In einer Welt, in der sogar Erdbeben von Geheimdiensten
zum Zweck der Welteroberung erzeugt werden, wie eine Patriarchatsforscherin
der Universität Innsbruck (Innsbruck – das ist natürlich
wieder kein Zufall!) herausgefunden hat,[6] liegt es nahe, daß [N.
N.s] Tod in die Geschichte flüchtiger Kriegsverbrecher gehört.
So ist die Welt einfach.
6.Kapitalismus, ein Zerstörungsprojekt. Die
Ära der westlichen Ökonomie sei zu Ende, meint die Patriarchatskritikerin
Claudia von Werlhof, Standard, 12.2.2010.
Die zitierten Behauptungen Gerald Steinachers über die genannte
Person N. N. sind falsch. Der Autor teilte dazu am 16.5.2013 mit:
In dem Buch Nazis auf der Flucht (erschienen
2008) wurde in Bezug auf Herrn [N. N.; Name von Historicum gelöscht]
behauptet:
» In […] hielt […] [N. N.], ein ehemaliger belgischer
SS-Mann, seine schützende Hand über die Kameraden in den südamerikanischen
Niederlassungen. (...) [N. N.] erlitt kurz vor seinem 61. Geburtstag bei
einer Jubilarfeier […] einen Herzinfarkt; auf dem Weg ins Krankenhaus
ist der Krankenwagen in einen Unfall verwickelt worden und [N. N.] tödlich
verunglückt. Die ungewöhnlichen Umstände seines Todes führten
damals zu Gerüchten, die offizielle Unfallversion wurde bezweifelt.
[N. N.] spielte zweifellos eine wichtige Rolle in der Kameradenszene.
Offenbar kannten sich Nicolussi-Leck und [N. N.] aus der gemeinsamen Zeit
bei[…] bzw. schon aus ihrer Zeit bei der SS-Division ›Wiking‹.«
Diese Behauptungen sind unzutreffend. Verlag und Autor bedauern den Irrtum.
Ebenfalls am 16.5.2013 übermittelte der Anwalt des Geschädigten
(Sohn des fälschlich als SS-Mann Bezeichneten) Erklärungen des
Autors und des StudienVerlags, in denen sie sich verpflichten,
– die zitierten Behauptungen nicht mehr zu verbreiten und
– das Buch Nazis auf der Flucht nicht zu verbreiten, ohne
die betreffende Passage unkenntlich zu machen, etwa durch Schwärzung.
Die Löschung des Namens von N. N. und seiner sonstigen Charakterisierungen
in den zitierten Passagen erfolgte auf Wunsch des Geschädigten am
15.5.2014.