Sommer 99
Habilitation Peter Teibenbacher
Von Michael Pammer
Regionale Entwicklungsmuster in der Steiermark Historicum | Habilitationen
Wenige historische Epochenbezeichnungen haben solche Mißverständnisse hervorgerufen wie der Ausdruck Industrialisierung, vom Begriff der Industriellen Revolution ganz zu schweigen. Aus der Welt sind diese Mißverständnisse zwar noch nicht, aber dies ist eher ein Problem der Vermittlung von Geschichte an ein breites Publikum. Ansonsten sind einige grundlegende Einsichten, die dem Industrialisierungsprozeß realistischere Züge verleihen, längst etabliert: daß in der Industrialisierung nicht nur der gewerblich-industrielle, sondern auch der Dienstleistungssektor rasch wuchs; daß die Industriegesellschaft in großen Teilen eine Agrargesellschaft blieb; daß Industrialisierung über weite Strecken eine kleinbetriebliche Angelegenheit war; daß Industrie vielfach in Wirklichkeit nicht Industrie, sondern Gewerbe war; daß der Industrialisierungsprozeß gemächlich verlief und die Wachstumsraten nach Maßstäben der Nachkriegszeit eher niedrig waren; und anderes mehr.
Alle diese Aussagen kennzeichnen im großen und ganzen auch die Situation in Österreich im 19. Jahrhundert, aber es ist nicht von vornherein klar, wie sich die Entwicklung im regionalen Rahmen abgespielt hat. Denn offenkundig entwikkelten unterschiedliche Regionen im sektoralen Wandel, in der Betriebsstruktur, auch in demographischer Hinsicht in der Industrialisierung spezifische Züge - wie sich diese Besonderheiten bildeten, ob und wie sich Regionen im Verhältnis zueinander veränderten, diese Frage muß von Fall zu Fall untersucht werden. Für das Gebiet der heutigen Steiermark unternimmt dies Peter Teibenbacher in seiner Habilitationsschrift
Regionale Entwicklungsmuster. Demographische und sozio-ökonomische Modernisierung in den Politischen Bezirken der Steiermark zwischen 1850 und 1914. (= Grazer Rechts- und Staatswissenschaftliche Studien 57). Graz (Leykam) 1999. 399 S., öS 448,-
die auf der Ebene der politischen Bezirke regionale Entwicklungen vergleicht und kategorisiert. Abschnittweise untersucht der Autor auch Entwicklungen auf lokaler Ebene.
Im einzelnen analysiert Teibenbacher unter den demographischen Kenngrößen
- Bevölkerungszahl,
- Altersstruktur,
- Bevölkerungsbewegung in allen ihren Aspekten, nämlich Geburten (auch nach Legitimität), Sterbefälle (auch nach Todesursachen), Heiraten und Wanderungsbewegungen sowie
- Siedlungsdichte.
Themen der Wirtschaftskapitel sind
- sektorale Untersuchungen zur Landwirtschaft (nach Betrieben, Beschäftigten, Produktion und Kapitalausstattung) sowie zu Industrie, Gewerbe und Handel (wieder nach Betrieben und Beschäftigten),
- Spareinlagen und
- Steuern.
In kürzeren Abschnitten kommen zu diesen Themen noch Bildungsstatistik (Alphabetisierung) und Politik (Ergebnisse der Reichsratswahl 1911) dazu.
Basis der Arbeit sind verschiedene gedruckte Statistiken, aus denen sich für viele der wesentlichen Größen bezirksweise Zeitreihen erstellen ließen. Für den lokalen Rahmen griff Teibenbacher auf Erhebungsbögen der Volkszählungen zurück, die auch personen- und haushaltsbezogene Auswertungen erlauben. In dieser Zusammenstellung von großen Materialmengen, die Daten zu den zentralen Fragen der steirischen Wirtschaftsgeschichte zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg vereinigen, liegt wohl der größte Wert der Arbeit.

Ergebnisse

Teibenbacher beginnt mit einem Vergleich der Bevölkerungsentwicklung der steirischen Bezirke zwischen 1857 und 1910 und gruppiert die Bezirke nach der Ähnlichkeit der demographischen Entwicklung. Obwohl das Ergebnis im wesentlichen Punkt - die Industrieregionen unterschieden sich von den Agrarregionen durch ihre kontinuierlichere Entwicklung - wohl zu akzeptieren ist, muß doch diskutiert werden, wie der Autor zu diesem Ergebnis gelangt. Um das nicht eben ungewöhnliche Problem zu umgehen, daß Entwicklungsunterschiede von Bezirken ganz unterschiedlicher Größe untersucht werden sollen, standardisiert Teibenbacher nämlich die Bevölkerungszahlen eines jeden Bezirks anhand von dessen Jahresreihe.1 Er verwendet dabei die Originalwerte, sodaß etwa in einer Jahresreihe eine Bevölkerungszunahme von 40000 auf 60000 die gleiche Bedeutung erhält wie eine Zunahme von 60000 auf 80000. Bevölkerungsveränderungen passieren aber nicht additiv, sondern multiplikativ; es hätten bei der Standardisierung also nicht die Originalwerte, sondern deren Logarithmen verwendet werden müssen.2 Auch die Interpretation der Ergebnisse, bei der keine Trennung von Zufall und systematischer Schwankung erfolgt, überzeugt nicht; so schreibt der Autor über Graz-Stadt und Leoben: »Diese Bezirke erleben eine stetige Steigerung, welche von 1869 bis 1890 zunimmt, noch stärker von 1890 bis 1900 erfolgt und dann eine Abnahme von 1900 bis 1910 aufweist« (S. 48). Tatsächlich wuchs der Bezirk Leoben mit einer Rate von jährlich ungefähr 1,4 Prozent, Graz-Stadt wuchs um jährlich ungefähr 1,7 Prozent. Die Abweichungen von diesen Trends, die es in jedem Beobachtungsjahr gibt, sind gering und alle nur zufällig. In ähnlicher Weise könnten die Bemerkungen zu den anderen Bezirken kommentiert werden. Das Beispiel ist an sich gar nicht so wichtig, aber symptomatisch für gewisse methodische Probleme dieser Arbeit, die unten noch anzusprechen sind.
Neben der Bevölkerungsentwicklung der Bezirke selbst berechnet Teibenbacher auch die Anteile der Bezirke an der Gesamtbevölkerung des Untersuchungsgebiets und die Bevölkerungsentwicklung in den Gemeinden. Hier wird die demographische Heterogenität der Bezirke spürbar - in allen Bezirken findet man ebenso Gemeinden mit kontinuierlich zunehmender wie mit schwankender Bevölkerung, in einem Teil der Bezirke auch Gemeinden mit kontinuierlich abnehmender Bevölkerung.
Die Bevölkerungsentwicklung als ganze ist ein Ergebnis mehrerer Komponenten, die als »Bevölkerungsbewegung« firmieren. Geburtenentwicklung, Sterbezahlen, Heiratszahlen und Wanderungsbewegungen hängen von einer Reihe weiterer Faktoren ab, die insgesamt ein komplexes Beziehungsgeflecht ergeben. In der vorliegenden Arbeit werden diese Verläufe meist nach zwei oder drei Dimensionen aufgeschlüsselt (zum Beispiel: Mittleres Heiratsalter nach Bezirk, Jahr und Geschlecht), und in eher losem Zusammenhang mit den zentralen Themen der Bevölkerungsentwicklung werden noch weitere Fragen behandelt (zum Beispiel saisonale Heiratsmuster). Teibenbacher spricht einige wichtige Fragen an, die eine nähere Darstellung verdient hätten, so etwa die Veränderungen der Geburten- und Sterberaten im Zusammenhang mit der Veränderung der Altersstruktur. An diesen Punkten wird deutlich, daß eine separate Behandlung der Komponenten der Bevölkerungsbewegung unbefriedigend ist und daß eigentlich ein erheblich komplexeres Modell angestrebt werden sollte, das aus den Bewegungen in einer Periode die dadurch verursachten Veränderungen der Bevölkerungsstruktur schätzt; diese Veränderungen sind ihrerseits gleichbedeutend mit veränderten Randbedingungen für die Bevölkerungsbewegung in der Folgeperiode. Wünschenswert wäre also ein multifaktorielles Verlaufsmodell der Bevölkerungsentwicklung.
In der Untersuchung von Landwirtschaft, Gewerbe, Industrie und Handel behandelt der Autor viele wichtige Fragen, die sich bei der Analyse der sektoralen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellen. Die Probleme, mit denen die wirtschaftshistorische Forschung aufgrund der Datenlage konfrontiert ist, werden ebenfalls deutlich, als gravierendstes die problematische Berufsstatistik. Bei der Landwirtschaft kommt auch die Produktion zur Sprache, bei der Viehwirtschaft und beim Getreide nach Gattungen beziehungsweise Getreidearten getrennt. Das unterschiedliche Gepräge der Landwirtschaft in Ober- und Südsteiermark kommt sowohl beim Vieh als auch beim Getreide deutlich heraus, auch wenn die Darstellung an manchen Punkten weniger klar ist, als es wünschenswert wäre; so kann man als Leser etwa mit der Mitteilung, daß die obersteirischen Bezirke im Durchschnitt 36000 Stück Geflügel hatten, die südsteirischen aber 123000 (S. 175), nicht viel anfangen, da die südsteirischen Bezirke größer waren und eine höhere Agrarquote hatten - ungewichtete Durchschnittswerte dieser Art kommen in diesem Kapitel und in der ganzen Arbeit immer wieder vor (siehe dazu noch unten). Insgesamt wird aber das Profil der steirischen Bezirke, die jeweiligen Besonderheiten von südsteirischer und obersteirischer Landwirtschaft, die eigene Entwicklung der obersteirischen Industriebezirke und klarerweise die Sonderrolle von Graz und Graz-Umgebung doch deutlich.
Ein Kapitel ist der Kapitalbildung »im Lichte der Spareinlagen« gewidmet. Teibenbacher beschränkt die Analyse der Spareinlagen auf die Einlagen bei Sparkassen und läßt die Vorschußvereine beiseite, weil, so seine Begründung, die Vorschußvereine vergleichsweise wenig Einlagen gehabt hätten. Es ist zwar richtig, daß die Einlagen bei den Vorschußvereinen geringer als bei den Sparkassen waren, doch war der Abstand doch nicht ganz so groß, wie der Autor annimmt. Er vergleicht nämlich nur die Raiffeisenkassen mit den Sparkassen, nicht aber die anderen Vorschußvereine, die nach dem System Schulze-Delitzsch (mit beschränkter oder unbeschränkter Haftung) arbeiteten und die es schon viel länger als die Raiffeisenkassen gab. In der Steiermark hatten sie bis zuletzt trotz ihrer schließlich geringeren Zahl insgesamt mehr Mitglieder und mehr Spareinlagen als die Raiffeisenkassen; vor allem aber war die Anzahl der Institute bei den Vorschußvereinen weit höher als bei den Sparkassen.3 Für einen regionalen Vergleich sind die Vorschußvereine daher gerade wegen ihrer Kleinheit und großen Zahl immer recht interessant, besonders aber in der Steiermark, wo die Schulze-Delitzsch-Vereine, verglichen mit anderen Kronländern, relativ stark verbreitet waren.
In den Sparkassen stieg die durchschnittliche Einlage pro Sparbuch in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg stark an; damit kamen etwa im Bezirk Bruck 1913 nur mehr halb soviele Sparbücher auf 1000 Kronen wie 1873, eine Entwicklung, die der Autor nicht nachvollziehbar als »starke Konzentrationsbewegung des Kapitals« interpretiert: »Die Einlagensummen vermehrten sich im Bezirk vom Jahre 1873 auf 1913 um das 11.5-fache, die Anzahl der Sparbücher aber nur um das fünffache« (S. 238).4 Eine solche Entwicklung deutet im Gegenteil auf eine gleicher werdende Verteilung der Spareinlagen hin, da der Anteil der Bevölkerung, der keine Spareinlagen besaß, offenkundig geringer wurde und sich die Einlagen wohl in wenig veränderter Art auf die vorhandenen Einlagebücher verteilt haben werden.5 Daß sich die mittlere Einlagesumme pro Sparbuch jährlich um ungefähr 2 Prozent erhöhte, läßt sich zwanglos mit dem Einkommenswachstum erklären, nicht durch die Entstehung einiger weniger riesiger Sparguthaben, die den Durchschnitt in die Höhe getrieben hätten. Auch in weiterer Folge behauptet Teibenbacher eine »Konzentration des Kapitals im Laufe der Industrialisierung« gestützt auf zwei Befunde, nämlich
- den positiven Zusammenhang zwischen der Zahl der außerhalb der Landwirtschaft Tätigen in einem Bezirk und der Höhe der gesamten Spareinlagen im selben Bezirk6 (ein triviales Ergebnis, da große Bezirke überhaupt leichter hohe Spareinlagen ansammelten und Graz das Ergebnis stark geprägt haben wird), und
- einem schwachen Zusammenhang zwischen der Agrarquote eines Bezirks zu einem bestimmten Zeitpunkt und der Dynamik der Einlagenentwicklung desselben Bezirkes7 (letzterer ein Indikator, von dem nicht viel zu erwarten ist, da er nur in einer bestimmten Weise angibt, wie weit die Einlagen eines Jahres vom langjährigen Durchschnitt des betreffenden Bezirks abweichen).
Beide Ergebnisse besagen nichts für die Kapitalkonzentration. Für diese Vergleiche wäre es sinnvoller gewesen, die Einlagen pro Kopf der Bevölkerung heranzuziehen, wogegen sich Teibenbacher aber ohne Begründung ausspricht.8 Im übrigen geben jedoch Spareinlagen ohnehin wenig Aufschluß über den Grad der Kapitalkonzentration in einer Wirtschaft, da es sich dabei um eine Veranlagungsform handelte, die zwar für die Eigentümer kleiner Vermögen eine relativ große Rolle spielte, für die Eigentümer großer Vermögen aber eher bedeutungslos war.
Die Untersuchung der Einkommen anhand der Steuerdaten ergibt im regionalen Vergleich gute Anhaltspunkte für die Entwicklung der Einkommensverteilung im Zusammenhang mit sektoralen Umformungen einer wachsenden Wirtschaft, eines der großen Themen der Wachstumsgeschichte. Die Hauptergebnisse dabei sind:
- In den obersteirischen Industriebezirken, in Graz und Graz-Umgebung entstand in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg eine, verglichen mit den Agrarbezirken, etwas breitere Schicht von Einkommensbeziehern, die über die Besteuerungsgrenze der Personaleinkommensteuer von 1200 Kronen Jahreseinkommen vorstießen.
- Innerhalb dieser Schicht von mittleren und oberen Einkommensbeziehern war die Einkommensverteilung in den Industriebezirken etwas ungleicher als in den Agrarbezirken.
Über die Entwicklung der Einkommensverteilung insgesamt läßt sich zwar nur spekulieren, wahrscheinlicher ist aber wohl doch eine gegenüber den Agrarbezirken ungleichere Verteilung in den Industriebezirken. Dies deshalb, weil die Verteilung insgesamt ungleicher wird, wenn eine größere Gruppe von Einkommensbeziehern in sich eine größere Ungleichheit aufweist; die Schicht der Einkommensbezieher unter 1200 Kronen wird in allen Bezirken in sich verhältnismäßig egalitär strukturiert gewesen sein. Freilich sind grundsätzlich auch Konstellationen denkbar, die dem entgegenstehen.
Zusätzlich zu all diesen Analysen, deren Gegenstand immer die Bezirke im Vergleich sind, behandelt Teibenbacher in einem längeren Kapitel auch eine einzelne Gemeinde, nämlich Aflenz, als Beispiel für Entwicklungen im lokalen Rahmen. Diskutiert werden hier die demographische Struktur, die sektorale Binnenstruktur der Gemeinde, vor allem aber die Zusammensetzung der Haushalte nach Haushaltsmitgliedern mit ihren spezifischen Funktionen (zusammengefaßt zu Haushaltstypen) und die Transformation von Haushalten im Lauf von zwei oder mehr Generationen. Letzteres mündet in eine detaillierte Auflistung von Haushaltsmitgliedern mehrerer Haushalte bei allen Volkszählungen von 1869 bis 1910 mit einer Besprechung der Veränderungen in diesen Jahrzehnten. Haushalte, die eine derartige Untersuchung über längere Zeit erlauben, sind recht selten, in der ganzen Gemeinde Aflenz findet sich kaum ein Dutzend. Eine statistische Auswertung, die ohnehin methodisch schwierig wäre, ist daher von vornherein nicht möglich. Wieweit die Erkenntnisse aus den wenigen verfügbaren Fällen verallgemeinert werden können, bleibe dahingestellt.
Im abschließenden Teil faßt Teibenbacher Ergebnisse der vorhergehenden Kapitel zusammen, um nun Bezirke nicht nach demographischen, sektoralen oder Einkommensmerkmalen getrennt zu kategorisieren, sondern diese Bereiche übergreifend in eine Kategorisierung einfließen zu lassen. Die Grundmuster regionaler Gliederung bleiben dabei im großen und ganzen bestehen, nicht unerwartet, da auch bei den vorangegangenen Analysen immer wieder Ähnlichkeiten zwischen denselben Gruppen von Bezirken festzustellen waren.

Statistische Verfahren

Die Arbeit ist als deskriptiv-statistische Untersuchung konzipiert, die sich überwiegend auf leicht nachvollziehbare Verfahren beschränken soll, um leichter lesbar zu bleiben. Es ist an sich nichts gegen einfache Verfahren einzuwenden, wenn sie ihren Zweck erfüllen. Allerdings ist dies eben häufig nicht der Fall, und komplexere Verfahren sind entsprechend oft vorzuziehen; die Verständlichkeit kann in solchen Fällen durch Erläuterungen hergestellt werden, auch ohne die Leser mit ökonometrischen Details zu quälen. Im Fall von Teibenbachers Analysen ist übrigens zu sagen, daß sie öfters gar nicht so leicht zu rezipieren sind, auch wenn sie im statistischen Sinn noch so einfach sein mögen - man stelle sich nur einmal einen »mittleren prozentuellen Anteil (Median) der Stammpersonen [beziehungsweise der familienfremden Personen] an allen Personen im Haushalt« vor, wie er in den Tabellen 121 und 122 angegeben ist, und ergründe, warum die Summe der beiden Tabellen in den meisten, aber nicht in jeder Zelle 100 ergibt.9
Über weite Strecken bestehen die statistischen Angaben aus bezirksweise berechneten arithmetischen Mittelwerten, Medianen10, prozentuellen Verteilungen, einfachen Verknüpfungen wie Pro-Kopf-Angaben und ähnlichen einfachen Maßen.
Wie schon festgestellt, sind vor allem die Mittelwertberechnungen nicht immer sinnvoll, jedenfalls dann nicht, wenn der Autor Mittelwerte über Tabellenreihen oder -spalten hinweg berechnet. Teibenbacher pflegt nämlich in einer Tabelle zuerst Kennwerte für eine bestimmte Größe - zum Beispiel Prozentanteile oder Pro-Kopf-Angaben - nach Bezirken oder anderen Kriterien gegliedert anzugeben und am Schluß einen ungewichteten Durchschnitt daraus zu berechnen. Das heißt, dieser »Mittelwert« bei einer Pro-Kopf-Angabe ist dann nicht gleich dem Pro-Kopf-Wert aus allen einbezogenen Bezirken, sondern ist ein Mittelwert aus Bezirks-Durchschnittswerten. Ganz abwegig wird die Mittelwertberechnung in Tabelle 100, die die Ergebnisse von fünf Clusteranalysen (siehe dazu gleich unten) bringt, in der in fünf unterschiedlich langen Zeitabschnitten die Bezirke nach Spareinlagen in einer bestimmten Weise kategorisiert werden; dazu wird eine vereinfachte Kennzahl gestellt, die die Cluster jeweils charakterisiert. Jede Clusteranalyse ergibt fünf Cluster, die mit den Ziffern 1 bis 5 benannt sind; diese Benennungen haben nichts mit inhaltlichen Eigenarten der Cluster zu tun. Durch die historische Entwicklung bedingt, kann sich ein Bezirk in einem Zeitabschnitt in Cluster 1 finden, im nächsten Zeitabschnitt zum Beispiel in Cluster 4. Dennoch berechnet Teibenbacher zum Schluß, über alle fünf Zeiträume hinweg, einen Durchschnittswert aus den gebrachten Kennzahlen für alle »Cluster 1« genannten Cluster, alle »Cluster 2« genannten Cluster und so fort.
Außer diesen Maßen verwendet Teibenbacher gelegentlich zwei Ungleichheitsmaße, den Gini-Koeffizienten und den Variationskoeffizienten (der Gini-Koeffizient beruht auf dem paarweisen Vergleich eines jeden Falles mit jedem anderen Fall, der Variationskoeffizient beruht auf der Abweichung eines Falles vom Durchschnitt).
Großes Gewicht hat in dieser Arbeit die bereits erwähnte Clusteranalyse, ein Kategorisierungsverfahren, bei dem Fälle nach ausgewählten Kriterien in Gruppen (»Cluster«) eingeteilt werden. Die Fälle sind hier die Bezirke, als Kriterien für die Gruppierung kommen viele der überhaupt in die Untersuchung einbezogenen Größen in Frage, zum Beispiel der Anteil der landwirtschaftlich Erwerbstätigen, die Spareinlagen pro Kopf, das mittlere Heiratsalter usw. Für die einzelnen Kriterien werden die Unterschiede zwischen den Fällen berechnet und die Fälle nach ihrer Ähnlichkeit zu Gruppen zusammengefaßt (sowohl für die Berechnung der Unterschiede als auch für die Qualifizierung von »Ähnlichkeit« stehen verschiedene Möglichkeiten zur Wahl). Die Clusteranalyse hat so wie andere Kategorisierungsverfahren den Vorteil, daß sie eine größere und daher schwer überschaubare Zahl von Fällen auf wenige Gruppen reduziert. Im Fall von Teibenbachers Arbeit gibt es dabei zwei diskussionswürdige Punkte.
Der erste Punkt betrifft die Verwertung der Ergebnisse von an sich ganz sinnvollen clusteranalytischen Berechnungen. Teibenbacher beschränkt sich bei der Interpretation der Ergebnisse von Clusteranalysen auf eine verbale Charakterisierung von Clustern, ohne im statistischen Sinn zu prüfen, welche der zur Clusterbildung verwendeten Variablen einen relevanten Beitrag zur Unterscheidung der Cluster liefern und welche von untergeordneter Bedeutung sind - oft liegen ja die interessantesten Ergebnisse darin, daß sich ein Unterscheidungsmerkmal, das zunächst wichtig erschienen ist, als irrelevant entpuppt. Bei einer Clusteranalyse, die Bezirke nach einer größeren Zahl von Kriterien kategorisiert, ist tatsächlich in der Regel ein Teil der verwendeten Kriterien für das Ergebnis ohne sonderliche Bedeutung. Es wäre wünschenswert - gerade in einer Arbeit, die regionale Entwicklungsmuster mit statistischen Mitteln darstellt -, diese Klärungen mit den gängigen statistischen Mitteln (zumeist werden multiple lineare Modelle angewandt) vorzunehmen.
Der zweite Punkt betrifft die Verwendung der Clusteranalyse für Fragestellungen, für die sie nicht geeignet ist. So untersucht Teibenbacher die zeitliche Entwicklung der gesamten Spareinlagen der heutigen Steiermark zwischen 1869 und 1913 in der Weise, daß er die Jahreswerte zu Clustern zusammenfaßt (S. 243-245). Es ergibt sich, daß die Jahre 1869-1872, 1873-1885, 1886-1893, 1894-1901 und 1902-1913 jeweils einen Cluster bilden, das heißt, die Werte innerhalb dieser Zeitabschnitte sind einander besonders ähnlich. Das Ergebnis dieser höchst ungewöhnlichen Art von Zeitreihenanalyse interpretiert Teibenbacher im Sinn einer Konjunkturanalyse: die Jahre vor dem Börsenkrach, die Jahre ab 1886, besonders aber die Zeit nach 1902 seien Jahre des Aufschwungs und entsprechender Einlagensteigerungen gewesen, während die Jahre der Krise ab 1873 zu einem übermäßigen Abzug von Einlagen geführt hätten. Dazu kommen diverse ad-hoc-Erklärungen für Periodengrenzen wie die Währungsumstellung und dergleichen. Die Verwendung der Clusteranalyse in einem solchen Fall ist unangemessen und führt, wie man hier am Ergebnis sieht, in die Irre. Unangemessen ist sie hier deshalb, weil die Spareinlagen einem langfristigen Trend unterlagen.11 In einem solchen Fall ist nämlich von vornherein die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß benachbarte Jahreswerte einander ähnlich sind. Die Analyse muß also zunächst den Trend der Zeitreihe bestimmen und dann untersuchen, ob die Abweichungen vom Trend zeitliche Muster aufweisen oder ob sie zufällig verteilt sind. Im vorliegenden Fall wuchsen die Spareinlagen im genannten Zeitraum mit Ausnahme zweier Jahre monoton an, die Einlagensteigerung betrug ungefähr 4 Prozent pro Jahr. Die Abweichungen von diesem Trend sind nicht zufällig verteilt: in den Jahren 1869-1872, 1906-1908 und 1910-1913 lagen die Spareinlagen signifikant niedriger, als der langfristige Trend ergibt; in den Jahren 1874-1882 und 1884-1897 lagen die Spareinlagen über dem Trend. 1873, 1883, 1898-1905 und 1909 war die Abweichung vom Trend nicht signifikant. Das heißt, daß im Gegensatz zu Teibenbachers Annahmen die Spareinlagen in der Krise verhältnismäßig hoch waren, in der Boomperiode verhältnismäßig niedrig. Das ist auch gar kein Wunder: Sparer legen ja nicht in den fetten Jahren ein, um in den mageren Jahren abzuheben. Wenn die Sparer überhaupt auf Konjunkturen reagierten, dann suchten sie sich in der Boomperiode lukrativere Veranlagungen, während sie sich in der Krise mehr auf das Sparbuch konzentrierten (Krise heißt hier eine Periode mit geringeren Raten des Einkommenswachstums, die aber vermutlich immer noch positiv blieben). Aber es soll nicht zuviel aus diesen Schwankungen gemacht werden: die Abweichungen sind zwar signifikant, aber gering, jahresweise Bevölkerungsschwankungen und der Bevölkerungsumfang insgesamt sind nicht berücksichtigt, und bei alldem dominiert der langfristige Trend das Bild.
Wie man an diesem und an schon zuvor erwähnten Beispielen sieht, kann eine simple Anwendung eines regressionsanalytischen Ansatzes unter Umständen ein erheblich klareres Bild als eine Clusteranalyse oder andere in dieser Arbeit verwendete Ansätze bringen. Es ist nicht ganz verständlich, warum Teibenbacher völlig auf die gängigen Verfahren verzichtet und dafür auf ungebräuchliche Hilfskonstruktionen ausweicht. So untersucht er etwa zu Beginn die Bevölkerungsentwicklung in den verschiedenen Bezirken in der Weise, daß er den prozentuellen Unterschied in der Bezirksbevölkerung der Jahre 1857 und 1910 mit einer »theoretischen« Zunahme um knapp 70 Prozent (jährlich 1 Prozent) vergleicht und aus den Abweichungen Besonderheiten der Bezirke feststellt. Die normale Vorgangsweise wäre dagegen die Schätzung eines Trends aus den vorhandenen Bevölkerungszahlen der Zählungen zwischen 1857 und 1910, die eine bezirksspezifische Wachstumsrate mit Fehlergrenzen ergibt; die Fehlergrenzen würden auch eine klare Richtlinie dafür geben, welche Unterschiede zwischen Wachstumsraten verschiedener Bezirke systematischer Art und welche zufällig sind.

Dokumentation

Wenig begeisternd ist die Tabellengestaltung, die vor allem bei den Überschriften und Erläuterungen durch Zurückhaltung auffällt. Es wäre wünschenswert, Tabellen immer so zu gestalten, daß sie für sich verständlich sind und dafür nicht auf den Textteil angewiesen sind; es sollten also die verwendeten Kategorien, soweit erforderlich, erläutert werden, besonders dann, wenn es sich um die Ergebnisse von Datentransformationen über mehrere Rechenschritte handelt. Auch Kurzbezeichnungen sollten immer in der Tabelle erläutert werden: ein extremes Beispiel sind hier die tabellarischen Kurzbeschreibungen der Bezirke im letzten Kapitel (S. 335 ff.), die aus Tabellen mit zehn Spalten bestehen, die jeweils mit den Buchstaben A bis J bezeichnet sind. Was A, B, C usw. bedeuten, wird in den Endnoten auf den Seiten 346-347 erläutert. Sinnvollerweise sollten auch Zeilen und Spaltenbezeichnungen aus sich verständlich sein und nicht die Form von Codes haben, wie es etwa in Tabelle 137 der Fall ist, wo »Cluster 1«, »Cluster 2« etc. (bis Cluster 5) mit »Variable 1«, »Variable 2« etc. (bis »Variable 11«) in Beziehung stehen. Was sich hinter den Clusternamen und Variablenbezeichnungen verbirgt, ist auf der danebenstehenden Seite angeführt; die Tabelle ist dementsprechend mühsam zu lesen.

Zusammenfassung

Die Arbeit Peter Teibenbachers verwertet viel Material, das auch in großer Ausführlichkeit präsentiert wird. Grundmuster der regionalen Entwicklung der Steiermark zwischen 1850 und 1914 werden dabei deutlich, die auch, wie der Autor zum Schluß feststellt, vieles von den heutigen regionalen Unterschieden in der Steiermark erkennen lassen. Ein Ergebnis ist also die Beständigkeit regionaler Eigenarten in den verschiedenen Teilen der Steiermark. Ein weiteres Ergebnis ist die Konsistenz regionaler Muster in verschiedenen Bereichen wie Demographie, Einkommensentwicklung und sektoraler Aufteilung, was zum Teil klarerweise auch durch funktionale Zusammenhänge zwischen diesen Bereichen bedingt ist.
Methodisch ist an der Arbeit vor allem zu kritisieren, daß die an sich wünschenswerte Anwendung statistischer Verfahren fast nur einfache Ansätze eingeschlossen hat und damit Möglichkeiten verschenkt wurden, komplexere Zusammenhänge in einem statistischen Modell darzustellen. Selbst bei den einfacheren Analysen wurde durch die Anwendung ungewöhnlicher Hilfsverfahren anstelle von Standardverfahren die Möglichkeit vergeben, in der Vielfalt von Schwankungen im Datenmaterial systematische Zusammenhänge vom Zufall zu unterscheiden. Häufig können solche Fragen mit freiem Auge eben nicht entschieden werden.


Anmerkungen

1. Diese Standardisierung, ein Routineverfahren, beruht auf dem Unterschied zwischen einem Jahreswert und dem aus der Jahresreihe berechneten Mittelwert für den ganzen Zeitraum, dividiert durch die Standardabweichung (die ihrerseits aus allen derartigen Abweichungen vom Mittelwert errechnet wird).
2. Von geringerer Bedeutung ist, daß die Meßzeitpunkte (1857, 1869, 1880, 1890, 1900, 1910) unterschiedlich weit voneinander entfernt sind.
3. Zusammen wiesen die Vorschußvereine aller Systeme in der gesamten Steiermark (einschließlich Untersteiermark) 1913 immerhin 147 Millionen Kronen an Spareinlagen auf (die Sparkassen 545 Millionen) und hatten 140000 Mitglieder (die Sparkassen hatten 375000 Einleger). Im selben Jahr gab es in der Steiermark etwa 550 Vorschußvereine (davon etwa 430 Raiffeisenkassen), aber nur 43 Sparkassen.
4. Tatsächlich scheint sich nach Tabelle 93 die Zahl der Sparbücher im angegebenen Zeitraum im Bezirk Bruck knapp verdreifacht zu haben, was in Verbindung mit der durchschnittlichen Einlagesumme laut Tabelle 92 eine Steigerung der gesamten Einlagen im Bezirk auf das 5,5-fache ergibt. Aus den Ausführungen zu Leibnitz ergibt sich, daß Teibenbacher mit einer Vermehrung »um das zweifache« eine Verdoppelung meint, mit einer Vermehrung »um das vierfache« eine Vervierfachung.
5. Das bedeutet, daß die durchschnittlichen Unterschiede zwischen den Sparvermögen im Vergleich der Bewohner untereinander, gemessen an den Spareinlagen pro Kopf der Bevölkerung, vermutlich geringer wurden. Eine Konzentration hätte nur dann stattfinden können, wenn die hinzukommenden Sparbücher ganz geringe Einlagen aufgewiesen hätten, während sich die Zuwächse bei den gesamten Einlagen auf wenige Großeinleger konzentriert hätten, wofür es keinen Anhaltspunkt gibt.
6. Tatsächlich werden diese Zahlen zur jeweiligen Landessumme ins Verhältnis gesetzt, was aber am Ergebnis nichts ändert, sondern nur eine andere Skalierung darstellt.
7. Gemessen als standardisierte Werte der Einlagesummen innerhalb der Zeitreihe der Einlagen des Bezirks.
8. »Eine Standardisierung der Einlagensummen an der Anzahl der Einwohner wäre aus der Perspektive der Kapitalbildung sinnlos« (S. 240).
9. Die Lösung liegt anscheinend darin, daß es selten, aber doch, Verwandte gab, die nicht zu den Stammpersonen gehörten. Bei der Berechnung werden zuerst die Anteile der Stammpersonen usw. haushaltsweise ausgerechnet; unter den resultierenden Prozentwerten sucht man den Median. Ein anderes Beispiel, das eher mühsam nachzuvollziehen ist, ist Tabelle 9, wo Teibenbacher die Bevölkerungsentwicklung in den Gemeinden darstellt und zu diesem Zweck die Gemeinden in drei Kategorien mit zwei Unterkategorien einteilt; ein Beispiel für eine solche Unterkategorie: »die Werte [der Bevölkerungszahl von Gemeinden; Rez.] 1880-1910 sind flatterhaft gegenüber dem Wert von 1869, weisen aber für die Jahre 1900 und 1910 jeweils einen Wert über jenem von 1869 auf«.
10. Der Begriff wird in der Arbeit, zum Unterschied von anderen einfachen Maßzahlen, anscheinend nicht erläutert. Der Median ist der Zentralwert in der Verteilung eines Merkmals, das eine Anordnung von Fällen nach der Größe erlaubt (zum Beispiel Alter, Einkommen usw.): die Hälfte der Fälle hat einen Wert, der unter dem Medianwert liegt, die andere Hälfte liegt darüber.
11. Die folgende Analyse wurde unter Verwendung der Daten in Waltraut Scheriau/Peter Gallhuber, 150 Jahre Sparkassen in Österreich. Band 3: Statistik: Sparkassenstatistik - Wirtschaftsstatistik, hg. vom Hauptverband der Österreichischen Sparkassen, Wien 1969, Tab. 2.1.1.1 durchgeführt; bei der Clusteranalyse ergab sich klarerweise auch bei diesen Daten, daß Cluster jeweils benachbarte Jahre enthalten, allerdings unterschieden sich die Periodengrenzen etwas von Teibenbachers Ergebnissen.

 

 

- zum Seitenanfang -
letzte Änderung: 19.06.2015
Links Personen Produktion